HCGuthWarum wir nicht weiterwissen; 1-7: Anarchisten und Marxisten, Kapital und Staat

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Warum wir nicht weiterwissen; 1-7: Anarchisten und Marxisten, Kapital und Staat

Beitrag von HCGuth »

Unsere existenziellen Probleme als Weltgesellschaft liegen auf der Ebene von Technik, Wissenschaft, Produktion ("Produktivkraft-Ebene").
Die Organisation jeder gesellschaftlich-arbeitsteiligen Lösung, also koordiniert und halbwegs im Konsens, müsste derzeit (mangels besserem) auf Wirtschafts- und Staatsebene, mit Mitteln von Markt und Demokratie, stattfinden.
BEIDE Stufen zeigen aber deutliche Anzeichen von (Markt- und Staats-) VERSAGEN: Sie sind überfordert, werden der Aufgabe nicht mehr gerecht.
Der Markt hat bereits früher "versagt". Da muss, seit 100 Jahren, der bürgerliche (demokratisch-liberale Rechts-, oder der sozialistische) Staat aushelfen...
Dieser Staat ist um die Kategorie des (vernünftig bestimmten, auf Dauer haltbaren) INTERESSES und einer ORDNUNG solcher Interessen herum gebaut
Die Erwartung, auch und gerade der Marxisten, war: Dass diese (Klassen)Interessen sich immer homogener entwickeln würden - als Resultat von Entwicklungen auf der Ebene der Märkte. Die Geschichte hingegen ging genau andersrum weiter: Einst homogene Lager haben sich zersplittert - sich aufgelöst, angesichts von hunderttausend Aspekten, Einzelfragen, Hinsichten, in denen Einzelne je bestimmte Interessen haben konnten: Als Fussgänger, Aleinerziehende, Berufsgruppen-Angehörige, Verbraucher von dem oder jenem, Rechteinhaber, Sparer, Mieter, Lohnabhängige, Lohnabhängige dieser Branche, dieses Landes uswusw: Die DIVERSITÄT der Interessen der Einzelnen explodierte. Und die klassisch homogenen Milieus der Arbeiter (und Angestellten), bestimmt durch Konfession, Landsmannschaft, Branche, Geschlecht, die alle zusammen dann auch Werte und Überzeugungen von Massen von Leuten weitgehend bestimmten (weswegen sie auch als solche Masse Vertreter ihrer Interessen wählen konnten, die dann miteinander Kompromisse für Regierungsprogramme aushandeln konnten) - die haben sich seit langem aufgelöst. (Die berühmten SINUS-Milieus sind dafür leider kein Ersatz...)

Aber das ist nicht alles.
Die grossen, die existenziellen Probleme gelangen heute an und in die Gesellschaften durch Wissenschaften; vor allem in Gestalt von Prognosen (nicht so sehr Optionen zur Entwicklung technischer Geräte): Ökonomie, Umweltwissenschaften, Klimawandel, Ernährungslehre, Virologie (Impfen, Pandemie), Energiesysteme...
Wie man entscheidet, hängt da nicht mehr (kaum noch) von Interessen (oder sehr peripheren, der sich gegen Einsichten strräubenden Einzelbranchen, die besonders betroffen sein könnten, zu ihrem Nachteil sein könnten) ab. Sondern davon, wie man den Sachverhalt beurteilt.
Fast alle sind Laien in fast allen Sachfragen, die da zur Entscheidung anstehen.
Auch Politiker.

Es gibt ein Vorbild für die Art, wie Laien mit Experten umgehen, wenn eine Entscheidung ansteht, als Konsequenz aus Sachverhalts-Beurteilungen: Die Gerichte oder Untersuchungsausschüsse der Parlamente.
Bloss, dass in Verfahren, wo es um die grossen Richtungsfragen geht, grosse Teile der Bevölkerung einbezogen werden müssten.
Die Kollektivierung des Verstehens, Erklärens, Begründens, Schliessens steht an.
Eine reife Zivilgesellschaft, die genau dafür Formen und Formate findet, muss das Staatsversagen (incl Versagen von Öffentlichkeit, Vermittlung, Bildung) auffangen. So wie vor 100 Jahren der Staat die wankende Marktwirtschaft, in ihrem Versagen, auffangen und ab dann tragen und rahmen musste.

Bleibt die Frage: Wie entsteht sowas - eine reife Zivilgesellschaft? Was für Formen sollen das sein?

Anmerkung 23.06.: Die wesentlichen Aufgaben dieser Zivilgesellschaft liegen, entsprechend der eingangs aufgestellten These, auf der Ebene der Produktion: Wenn sie sich, durch die zwischengeschalteten Ebenen des ((räte?)demokratischen, sozialen Rechts)Staats und der wie auch immer verwalteten und in Betriebe weltweit aufgespaltenen Weltwirtschaft Zugriff auf die Produktionsmittel verschafft hat... dann muss sie anfangen, die Ursachen der Überforderung zu beseitigen, die unser aller Leben und Zusammenleben derzeit vergiftet.
Zuletzt geändert von HCGuth am 12.06.2020, 06:53, insgesamt 1-mal geändert.
Hans Christoph Guth


willi uebelherr
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Re: Warum wir nicht weiterwissen

Beitrag von willi uebelherr »

"Unsere existenziellen Probleme als Weltgesellschaft liegen auf der Ebene von Technik, Wissenschaft, Produktion ("Produktivkraft-Ebene").
Die Organisation jeder gesellschaftlich-arbeitsteiligen Lösung, also koordiniert und halbwegs im Konsens, müsste auf Wirtschafts- und Staatsebene, mit Mitteln von Markt und Demokratie, stattfinden."

Lieber Hans ([mention]HCGuth[/mention]), schon in deiner einleitung muss ich notwendig widersprechen.

Die "existenziellen Probleme als Weltgesellschaft" hat damit ueberhaupt nichts zu tun. Da geht es mehr um die art, wie wir miteinander umgehen. In deiner aufzaehlung, wo merkwuerdiger weise das privateigentum an gmeinschaftlichen Ressourcen fehlt, die wichtigste Blockade gegen gemeinschaftliches wirken, geht es um die allgemeinen existenziellen Lebensgrundlagen der einzelnen menschen, unabhaengig davon, ob sie sich egoistisch oder communistisch organisieren.

Aber dann kommt wirklich der groesste Unsinn von dir. ".. auf Wirtschafts- und Staatsebene, mit Mitteln von Markt und Demokratie, stattfinden." Wie soll denn das gehen? Der Staat, nicht existent, eine reine kopfgeburt, eingerichtet von den Eliten, fuer die Eliten, gegen die Bevoelkerung, sehr komplementaer zum Christentum, soll nun "arbeitsteilige Loesungen" in kleinen und grossen Regionen organisieren? "Mit den Mitteln von Markt und Demokratie"?

Ich fass es nicht, wie naiv du mit diesen ganzen Kalauern herumwirfst. Markt? Konsumenten, die nichts herstellen, koennen am Markt nicht teilnehmen, weil da nur Produzenten tauschen, weil nur sie etwas zum Tausch haben. Und Demokratie? Hat es sie irgendow schon mal gegeben? Gibt es sie irgendo? Ja, ich kenne indigene gemeinden, die sich streng demokratisch organisieren. Es sind eben keine West-Europaeer, weil die sich nur dem Raub verschreiben und wedeln dann mit wertlosem bedruckten papier.

Du kommst am Ansatz an den Wurzeln nicht vorbei. Selbst wenn du dich noch so maechtig dafuer ins Zeug legen willst. Diese billigen Kalauer, mit denen du hausieren gehen willst, werden sich ziemlich schnell im Winde der kritischen Reflektion aufloesen.


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Anarchisten und Marxisten; Kapital und Staat

Beitrag von HCGuth »

1. Die Debatte zwischen mir und willi erinnert an ein historisches Vorbild. willi vertritt Auffassungen, die typisch für ANARCHISTEN sind; ich hingegen solche, die den Anarchisten und Frühsozialisten ihrer Zeit von Marx und Engels und ihren Anhängern im 19.Jahrhundert (und auch später noch) entgegengehalten wurden.
Die anarchistisch-frühsozialistische Auffassung lautet: Die technisch erzwungene gesellschaftliche Organisation der Arbeitsteilung ist längst vorhanden, einfach darum, weil es ja die funktionierende Arbeitsteilung GIBT, und somit die Leute, die sich da wechselseitig Produkte zuliefern, ihre Beziehungen kennen und sich gut über sie verständigen können. Sie brauchen keine Aufseher und Herrscher, die ihnen sagen, was sie zu tun haben. Die sind komplett überflüssig. (Und genau das bringt willi ja regelmässig deutlich zum Ausdruck: Parasitärer Überbau, gut einzig für frei erfundene Zwecke: "Kopfgeburten".)
Die MARXISTEN haben darauf geantwortet: Klar - in einer vor- oder besser früh-modernen, beinah noch vor-industriellen Produktionsweise, in der etwa allenfalls Gusseisen, etwas Stahl und Fabrik-Textilstoffe in Industriezentren hergestellt wurden, gab es keine Notwendigkeit für eine von der Produktion abgetrennte Planung und Steuerung. Handel findet da auch nicht im grossen Stil zwischen Regionen statt. Stattdessen ist ein Grossteil der Wirtschaft angesiedelt in einer Stadt und der sie und sich selbst versorgenden Agrarregion drum herum. So wie es sich in Europa seit dem Hochmittelalter (ab 1100) entwickelt hat. Überregional ausgetauscht wurden da allenfalls lokale Überschüsse und Waren aus lokaler Fertigung, auf die sich die betreffende Region spezialisiert hatte. Luxusprodukte, Modeartikel usw. wurden in Massenfertigung in Manufaktur-Zentren hergestellt, und daneben die wenigen echten Industriegüter (Industrie heisst hier wesentlich: mit Maschinen): Eisen- und Stahl, Textilien. Das ist in etwa der Stand einer nicht sehr weit industrialisierten europäischen Nation wie etwa Frankreich um 1870 - zum Zeitpunkt des wesentlich von Anarchisten geführten Commune-Aufstands in Paris. Marx hat damals in seiner Stellungnahme zu dieser Episode eindeutig die anarchistische, "anti-autoritäre" Position der Aufständischen mitgetragen. Für Frankreich 1870 hätte Anarchismus wunderbar gepasst - wäre da nicht die riesige Masse der (Klein)Bauern und Handwerker, Dienstleister gewesen - die alle "klein-bürgerliche" Eigentümer ihrer Produktionsmittel und/oder immerhin Qualifikation waren. Die wollten keinen Communismus.
Die Marxisten, manche würden sie lieber Engelsisten nennen, weil die in diese Richtung zielenden Ideen nach Marx Tod (und auch schon davor) wesentlich von Engels vertreten wurden, haben dann eine PROGNOSE ausgesprochen: Fortschreitende Produktivität ("Produktivkraft bzw -kräfte") würde all diese "idyllischen" vormodernen Produzenten in Industrie-Arbeiter verwandeln, sie enteignen, weil IHRE Produktionsmittel zu primitiv waren. (Ob ein Nebenerwerbslandwirt, der heutzutage mit gemieteten Maschinen vom örtlichen Maschinenring ackert, und ansonsten komplett die Anweisungen der Düngemittel- und Pflanzenschutz-Hersteller befolgt, von denen er kauft, noch "selbständig",oder eigentlich längst ein Angestellter der Agrarkonzerne ist, ist eine rein akademische Frage. Ähnliches gilt für Handwerksberufe, die mit Maschinen, Materialien, Verfahren arbeiten, die komplett aus industrieller Produktion stammen. Etwa beim Bauen und Renovieren. Wobei sie auch noch durch DoItYourself-Arbeit überflüssig gemacht werden können...)

2. Das entscheidende Stichwort der Marxisten ist also: Produktivität*). Damit ist die Frage aufgeworfen, wie man den Fortschritt organisiert, und wer: Welche technischen Ideen sollen wie schnell, in welcher Reihenfolge, versuchsweise realisiert und am Markt eingeführt werden - was lohnt und fügt sich ins Gesamt der aktuellen Produktion ein bzw verdrängt Rückständiges, was ist unnütz, schädlich, und funktioniert nicht? (Wieviel Aufwand soll man für Fortschritt treiben, wieviel vom Gesamtreichtum der Gesellschaft dafür abzweigen bzw allererst produzieren?) Ebenso wie nicht-sozialistische Theoretiker und Ökonomen (zB Schumpeter) haben die Marxisten die Privateigentümer von Unternehmen, die "Unternehmer", für diejenigen gehalten, die diese Fortschritts-Planung, je aus der Perspektive der Profitabilität ihres Einzelbetriebs (oder -kapitals), für die Gesellschaft übernehmen. Sie hielten das nicht für eine "Kopfgeburt", sondern für eine objektiv dem Fortschritt der Produktivität, der "Entwicklung der Produktivkraft" dienende (Führungs-, Planungs-, Entscheidungs-)Rolle in der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung, die sie ZWISCHEN der forschenden Wissenschaft einerseits, und den tatsächlichen Produzenten in der Industrie angesiedelt sahen. Dass die Anarchisten und libertären Sozialisten zu diesem Einwand der Marxisten gegen sie nie eine Erwiderung gefunden haben, hatte und hat damit zu tun, dass sie sich Wirtschaft im Grund immer als eine dauerhaft eingerichtete, also stagnierende, vorstellten. Was übrigens zT für die nicht-staatssozialistischen Marxisten selber galt: Wenn die Kapitalistenklasse ihre historische Mission erfüllt hätte, und die Produktivkräfte entsprechend entwickelt sein würden.. könnte man sich auf dem erreichten hohen Niveau ja gemütlich einrichten. Weil es von da aus... irgendwie... ganz anders weitergehen würde. ZB würde die Naturwissenschaft wichtigste Produktivkraft werden; irgendwie würden alle produktiven Menschen Wissenschaftler sein. Die würden dann auch durch ihren Forschergeist soviel Interesse an ihrer Arbeit haben, dass ihre zweckdienliche Arbeit zugleich ihr erstes Lebensbedürfnis geworden sein würde. Um so zurückgebliebene Dinge wie "Anreize", Lohn-Hierarchien usw würde man sich in einer solchen Gesellschaft nicht mehr kümmern müssen. Eine WIRKLICH moderne Gesellschaft würde also selbstverständlich kommunistisch sein. Die Aufgabe des Kapitalismus, der Kapitalisten, des Grossbürgertums, später der Konzern-Manager und CEOs, sollte demnach sein: die Industrialisierung, Mechanisierung, Automatisierung und somit Modernisierung der weltweiten Produktion durchzuführen. Dann... da waren sich die Marxisten sicher... würden sie sich für alle erkennbar überflüssig gemacht haben. Dann würde, in der Tat, der Zustand, den die Anarchisten mit vor- oder frühmodernen Verhältnissen verbunden hatten, eintreten: Da Wissenschaft und ihr Wissen nun mal nicht gut privatisierbar sind, würde die Wissenschaft und auf ihr beruhender Fortschritt zentraler Inhalt und Zweck der gesamten Gesellschaftstätigkeit werden (und Produktion auf dem momentan erreichten Stand bloss noch eine untergeordnete Abteilung zur Ermöglichung der weiteren Fortschrittsbewegung).
*) Produktivität= Effektivität (etwas überhaupt können) + Effizienz (es mit möglichst wenig Aufwand können)

3. Der Optimismus der Marxisten, dass der technische Fortschritt relativ schnell die Gesellschaft auf ein solches utopisches Niveau hochkatapultieren würde, war unangebracht; eine Erfahrung, die die Marxisten mit bürgerlichen Politikern und Theoretikern teilten: Die Kapitalisten als Klasse, und der Markt bzw Kapitalismus als System, erwiesen sich als extrem störanfällig und wurden den in sie gesetzen Erwartungen nur sehr unvollkommen gerecht. Zum einen ging der Fortschritt nicht ungebrochen voran, sondern nur über lang sich hinziehende Krisen- und "Depressions"-Phasen, was sogar schrille Zusammenbrüche einschloss, mit lange Zeit ungenutztem Produktionspotential und langdauernder Arbeitslosigkeit. Zum andern war ein fertig eingerichteter Kapitalismus nicht stabil, sondern schien ständig Antriebe und Optionen zu erzeugen, durch die er seine Funktionsweise selbst zerstörte: Etwa eine Tendenz zur Monopolbildung und dadurch Stagnation, zu Wettgeschäften an der Börse, oder zur Bevorzugung einzelner besonders profitabler Kapitalfraktionen wie der Rüstungsindustrie, die dann die Gesamtgesellschaft in Kriege hetzte, um ihre besonders leicht zu erwirtschaftenden Profite zu steigern. Überhaupt war deutlich (wie auch immer man das im einzelnen erklärte), dass die Gewinne erstens nicht beständig flossen, dazu oft genug eher mickrig ausfielen, und selbst dann nicht einfach alle in Investitionen neu anzulegen waren - die Anlagemöglichkeiten waren zum gegebenen Zeitpunkt meist begrenzt. Zweitens dauerte es oft lang, bis sich grössere Unternehmungen tatsächlich rentierten (was wiederum langen Atem, Risikofreude, und grosse Kapitalmengen brauchte, somit zu Zentralisierung des Kapital-Sammelns und steigender Bedeutung der Banken und Finanz-"Industrie" führte, bei der Finanzierung etwa von Eisenbahnen und Kanälen, Öl-Bohrungen, und anderen Rohstoff-Erschliessungs-Unternehmen, oder auch weiträumigen kolonialen Infrastrukturen: Plantagen-Transport-Verkauf von Kaffee, Zucker, Bananen.).
Die Modernisierung ging ausserdem immer wieder nicht schnell genug. Speziell in den am meisten zurückgebliebenen unter den fortgeschritteneren Ländern, die überhaupt eine Industrialisierung in Angriff nehmen konnten, wurde das kapitalistische Entwicklungsmodell seiner Aufgabe nicht gerecht. Industrialisierung wurde dort (ua auch durch protektionistische Massnahmen) wesentlich vom STAAT (vor allem dem sozialistischen) vorangetrieben. Der Rest der Welt wurde ohnehin kolonial ausgebeutet, und konnte von Teilhabe an einer Entwicklung der Produktivkräfte bloss träumen. (Das sollte noch lange so bleiben - eigentlich bis in unsere Zeit der Globalisierung, wo unter einem weltweiten Freihandelsregime tatsächlich Kapital in Drittweltländer exportiert wurde und wird, die Rohstoffe und willige Arbeistkräfte zur Ausbeutung anbieten).

4. Der bis dahin ausgebldete liberale oder auch autoritär-modernisierende Staat war bis dahin schon immer der "Reparaturbetrieb" des Kapitalismus gewesen - etwa, indem er als Sozial- oder "Wohlfahrts"- Staat die Folgen von Rationalisierung und "schöpferischer Zerstörung" (also Verdrängung bestehender Produktion durch innovative und/oder produktivere) zB durch ein Versorgungswesen für Arbeitslose, Kranke, Behinderte, Alte kompensierte (diese Kosten liess er sich natürlich von Kapitalisten bzw aus Löhnen als Steuer oder Beitrag zu einer Sozialversicherung wieder erstatten). Arbeits- und Gewerbegesetze und- aufsicht, Industrie-Normen, überhaupt die ganze Rechtsordnung, schufen Rahmenbedingungen für ALLE Marktteilnehmer und zwangen sie, ihre Einkommen im Rahmen der allgemeinen Konkurrenz aller mit allen und wesentlich durch Beiträge zur Steigerung der Produktivität zu erzielen (bzw ihr Vermögen ausschliesslich durch solche "produktiven" Einsätze zu vermehren). Man kann nun grob sagen: Die letzten 100-150 Jahre sind die Phase, in der sich der bürgerliche Staat aus einem Anhängsel, einem blossen "Überbau" der produktivitäts-treibenden Konkurrenz bzw Wirtschaft/Produktionsweise zu deren Fundament und souveränen (Mit)Gestalter entwickelt hat. Er organisiert seither wesentlich mit die Dimension von KOORDINATION und KONSENSFINDUNG in der gegenwärtigen Produktions-Organisation, sofern die Betriebe und Märkte es nicht selber tun.
Dabei unterscheiden sich bis heute die wesentlichen modernen Staatsprogramme nach den Ansprüchen, denen sie - jenseits der Ebene der Betriebe und Einzelmärkte - bezüglich dieses ihres Beitrags zur Organisation einer modernen, mittlerweile global arbeitsteiligen Riesen-Industrieproduktion zu genügen versuchen:
Staatssozialismus wirkt unmittelbar auf die Gestaltung von Unternehmensführungen und Märkten, über Festsetzung von Preisen, Löhnen, Gewinnen usw - im Maximalfall fungiert er wie ein einziges, die gesamte Wirtschaft beherrschendes Monopol;
(klasssische) Sozialdemokratie behält sich solche Eingriffe (verstaatlichungen, Preis-Festsetzungen) zu Gemeinwohl-Zwecken zwar auch vor, lässt aber meist Unternehmen (abgesehen von Beschäftigten-Mitbestimmungsrechten) und Märkte selbst Preise, Löhne (Tarifparteien), Gewinne bestimmen über die Konkurrenz (Angebot und Nachfrage) der diversen Marktteilnehmer; ansonsten versuchen sozialdemokratisch orientierte Regierungen, die Wirtschaft indirekt über "globale Parameter" wie Zentralbank, Staatsausgaben, Kredit-Handhabung, aber auch gezielte Abgaben-, Struktur- und Subventionspolitik zu lenken - die Wirtschaftspolitik ist dabei wesentlich daran orientiert, Wachstumsimpulse durch gesteigerten Massen- und Staats-konsum (durch Fiat-Kreditgeld finanziert), also über die gesamtgesellschaftliche Nachfrage und deren (Um)Verteilung zu steuern;
Neoliberalismus schliesslich ist eine Strategie von Regierungen, Rahmenbedingungen des kapitalistischen Wirtschaftens durch alle Wechselfälle und über Grenzen aller Art hindurch aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, dass alle Einkommen, sofern nicht unmittelbar Lohneinkommen, aus Kapitalgewinnen stammen (zb kapitalgedeckte Altersversorgung usw) - diese Wirtschaftspolitik zielt darauf, dass Kapital und alle seine Faktoren auf entsprechenden Märkten - von Regulierungen und Abgaben entlastet - , im Überschuss und zugleich überall weltweit verfügbar sind.

5. Indem der moderne Staat*), wie er sich seit ca 100 Jahren ausgebildet hat, seine Aufgabe erfolgreich gelöst hat (nämlich der unmittelbaren Verwaltung von (Re)Produktion durch die Betriebe, Investoren und Haushalte einen Rahmen zu geben und sie global zu steuern), hat er bis jetzt immer wieder allen Zusammenbruchs-Prognosen aufseiten sozialistischer und nicht-sozialistischer Markt- und Kapital-Pessimisten die Grundlage entzogen:
Er hat mindestens
- Kapital-Konzentrationen zerschlagen, Kartelle verboten, Korruption strafbar gemacht;
- alle selbstverstärkenden Krisenprozesse teils prophylaktisch-antizyklisch abgeschwächt, teils durch Beaufsichtigung und Auftritt als Marktakteur bzw durch hoheitliche Akte (Banken- und Börsenaufsicht, Zentralbankpolitik, lender of last resort uvam, Fiskalpolitik, Aussenwert der Währung) unterbunden;
- er hat durch Arbeits- und Tarifgesetzgebung zum Ausgleich von Betriebs- und Lohnabhängigen-Interessen beigetragen (ähnlich für andere Konkurrenz-Verhältnisse und Ungleichgewichte, die sich destruktiv auf die Gesamtgesellschaft auswirken können);
- Schaffung einer internationalen Freihandelsordnung mit freiem Verkehr für Waren, Kapital, Dienstleistungen, Arbeitskräfte (letztere noch am wenigsten, aber man arbeitet dran);
- er hat Formen des gemeinwohl-schädigenden "Marktversagens" korrigiert: Sozialstaat, Arbeitslosen-Verwaltung/förderung/vermittlung, staatliche Ausbildungsprogramme, Grundlagenforschung, Förderung der produktiven Verwertung von deren Ergebnissen (Zusammenarbeit der staatlich geförderten Forschungsabteilungen mit Betrieben (oder deren Entwicklungsabteilungen), die Entwicklungen umsetzen sollen);
- er hat in Güterpreisen nicht sich darstellende, also externalisierte Kosten (für Umweltschäden, gesellschaftliche Umwälzungen; schnell wechselnder Ausbildungsbedarf) übernommen, auch durch Bereitstellung einer öffentlichen Infrastruktur und von "Systemlösungen" bei Gütern (ausserhalb der staatlich-hoheitlichen Kernaufgaben: Daseinsfürsorge, "Sicherheit", Rechtsordnung), die nicht oder nicht ohne erhebliche Einbussen privatisiert werden können: Verkehr, Ver- und Entsorgung, TeleKommunkation, Nachrichten, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Struktur/Flächen+Stadtplanung, usw), "Verbraucherschutz".

*) das glit für ALLE sStaatsprogranme; die staatssozialistischen sind dabei weiter gegangen als die andern beiden, aber auch früher gescheitert bzw zu Mischformen übergegangen (chinesischer Staatssozialismus).

6. Die Staatsleistungen - unter Bedingungen einer hoch-produktiven, daher hoch-arbeitsteiligen globalisierten Wirtschafts-Organisation (Koordination, Konsensfindung) mithilfe einer Konkurrenz von Privateigentümern - zehren allgemein einen grossen Anteil des Sozialprodukts auf (nicht die ganze Staatsquote, darin sind schliesslich auch umverteilte Einkommen, Subventionen etc mit enthalten; aber eben doch einen erheblichen Teil). Mit seinen Eingriffen hat der reife bürgerliche Staat nicht nur den Übergang in eine fordistische Massen-Industrie-Produktion begleitet und ihn nach einigen Anfangs-Holprigkeiten (Krise 1929) durchaus massgeblich mitgestaltet Er hat auch noch mitgeholfen, den nächsten Übergang in eine (sogar weltweite) "Dienstleistungsgesellschaft" herbeizuführen, in der in der Tat nu rnoch eine Minderheit der Bevölkerung mit der Herstellung von Produkten (Waren) beschäftigt ist, und eine Mehrheit nur noch "konsumiert" (die meisten Staatsbeschäftigten vorneweg) - wie willi immer wieder kritisch bemerkt.
Zur ökonomischen Einordnung dieses (tertirären oder gar quartären) Sektors hat übrigens Marx eine einfache Unterscheidung eingeführt in (kapitalre-)produktive Arbeit(svorgänge), und in andere (nicht unmittelbar in den Kreislauf des gesellschaftlichen Gesamtkapitals eingeschaltete, aber nützliche Arbeitsvorgänge, und in dem Sinn "unproduktive"). Das Kriterium für die "unproduktiven" aber nützlichen Wirtschaftsaktivitäten ist: dass sie aus Einkommen ("Revenuen": Löhnen, Gewinnen, Steuern (aus den beiden andern)) bezahlt werden, die im "eigentlichen" Kapitalkreislauf erwirtschaftet werden, eben dem, der mithilfe industrieller Fertigung an Produktionsmitteln auf hohem technischem Niveau eine extrem arbeits- (und hoffentlich auch sonst Ressourcen-)produktive (also effiziente) Versorgung der Gesamtgesellschaft mit Gütern ermöglicht. Die Tatsache, dass grosse Bevölkerungsteile keine Güter herstellen, sondern Dienstleistungen anbieten, die - aus welchen Gründen immer - von anderen "gebraucht" werden, macht diese Anbieter nicht automatisch zu "unnützen" oder gar entbehrlichen. Die Einkommensbezieher, die sich (abgesehen von den ihnen abverlangten Abgaben und Steuern) die Dienste dieser Bevölkerungsklasse kaufen, scheinen derzeit jedenfalls an den einschlägigen Leistungen hinreichend interessiert zu sein. - Wieviel der Dienstleistungssektor zur Produktivität des produzierenden Gewerbes sowie des Handels incl Logistik beiträgt, und insofern dafür eben doch NOTWENDIG ist, ist im übrigen auf Anhieb nicht einfach zu entscheiden.
((willi wird sich erinnern, dass das im alten aufstehen-Forum schon einmal diskutiert wurde, im Zusammenhang mit einem Artikel von Mohsen Massarat.))


7. Dass Produktivität, Komplexität, Diversität irgendwie mit Markt und Staat zusammenhängen, ist vielleicht klar. Umgekehrt stellt sich die Frage: Wie man solche Produktivität oder Abwandlungen davon anders organisiert - wie, wie sehr lokal und regional zB? - Es gibt aber noch etwas, das Staaten mehr sein lässt als Kopfgeburten: ihren Gewaltapparat; und der ist sehr real. Erstmal der nach innen wirkende - das "Gewaltmonopol". Und das heisst schon was. Da muss bereits gegen einzelne Terroristen heutzutage mit ziemlichem militärischem Aufwand ausgerückt werden. Aber es geht erheblich weiter: Der Polizei- und/oder Militär-Apparat in grossen Industriestaaten, auch demokratischen, ist durchwegs drauf ausgelegt (und muss es sein!), grössere Menschenansammlungen, selbst für den Fall, dass die bewaffnet sein sollten, zu "zerstreuen", mit und ohne Schiessbefehl. Das vorausgesetzt, muss man sich nun nur mal vorstellen, dass solch eine Staatsgewalt jenseits ihrer Grenze auf etwas für sie oder ihre Bürger schwer Erträgliches trifft, sagen wir: ein Uralt-Atomkraftwerk, oder eine andere Quelle gefährlicher Emissionen; eine Kriminellen- oder terroristische Oppositionsgruppe, die immer wieder rechtzeitig über die Grenze flüchtet, dort aber nicht verfolgt wird. Oder es gibt dort drüben was, dessen Mangel die eigene Wirtschaft kollabieren liesse. ((Für all das liessen sich Pendants allein schon auf ökonomischem Gebiet finden...)) Welche Regierung würde denn da zögern ihre innere Staatsmacht auch DORT einzusetzen, wenn ihr auf der andern Seite bloss ein paar als Armee firmierende Milizen entgegentreten würden? Wenn sie nicht überhaupt gleich die Grenzen verschieben mag (was sich allerdings auch nicht immer lohnt). Auf der andern Seite findet sich nun aber dasselbe: eine mehr oder weniger reife, moderne Staatsgewalt, mit innerem Monopol. Zwei Staatsgewalten mit Gewaltmitteln, die - hoffentlich - in Balance sind (sind sie nicht? um so schlimmer, dann muss man nachrüsten!), treten sich somit gegenüber. Zwei Staaten haben nun aber nicht nochmal ein Gewaltmonopol über sich, das ihre Konflikte wirklich regelt. Wir können fragen, warum nicht, und warum es bei den gegenwärtigen Nationalstaaten bleiben musste und bleiben wird. Aber wenn es so sein sollte: dann bleibt es auch bei der Kriegsgefahr. Ich behaupte: Aufgrund der Tatsache allein, dass sich das erreichte Binnenniveau der Staatlichkeit (und des einheitlichen Regierungswillens, zumindest einer Bundesregierung) nicht über nationale Grenzen hinaus ausdehnen lässt, besteht das Motiv zu Rüstung und die Kriegsgefahr immerzu fort.
Schon darum sind Staaten keine Kopfgeburten.
Und Nationalstaatlichkeit ist nichts Harmloses.
Wirkliche Internationalität, so behaupte ich, wird erst die supra-staatlich, supra-national verständigte weltweite Zivilgesellschaft zustandebringen. Sofern sie sich zuverlässig Kontrolle über die Ausübung der Staatsgewalt verschafft hat (auf durchaus demokratischem Weg, indem die Mehrheit der Bevölkerung regelmässig die Vertreter der Zivilgesellschaft in die Parlamente wählt.)
Vorher gibt es keinen Frieden. (Von der Bürgerkriegsgefahr im Innern ganz zu schweigen...)
Hans Christoph Guth


willi uebelherr
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Re: Warum wir nicht weiterwissen

Beitrag von willi uebelherr »

Lieber Hans ([mention]HCGuth[/mention]),

meine gestrige antwort ist verloren gegangen. Irgendwo im Nirwana des Servers. Also mache ich es nochmals. Vielleicht etwas kuerzer.

Meinen dank fuer deine ausfuehrungen. Vieles regt mich zum Widerspruch an, denke aber, dass es nicht viel nuetzt, an den einzelnen saetzen herum zu fummeln. So habe ich eine liste der themenkonzentrate in deinem beitrag gemacht.

1) zentral oder dezentral
2) Produktivkraft-Entwicklung
3) notwendige Bedingung fuer den Staat im kapitalismus
4) Aufgaben des "modernen Staates"
5) Faehigkeiten des "modernen Staates"
6) weiteres zum "modernen Staat"
7) weiteres zum "modernen Staat" - Gewaltmonopol

Es ist bestimmt nicht das, was du transportieren wolltest, sondern das, was ich las in deinem geschriebenen. Wir haben also tatsaechlich unsere beiden grundelemente unserer differenzen vor dem Auge: zentral/dezentral und Staat. Interessant war der absatz 2), weil du damit begruendest, warum die zerstreuten Kapitalisten notwendig einen Staat benoetigen, um als Klasse agieren zu koennen und so zu zeigen, dass sie doch irgendwie mal etwas zustande bringen. Zumindest die Kriege mit ihrer "kreativen Zerstoerung".

Dass du den Kern der staatlichen konstruktionen, die gewalt, an das ende setzt, zeigt mir dein illusioneres denken zum Staat. Alles, was du im kapitel 5) darlegst, begruendet keinen Staat, weil der da voellig ueberfluessig ist. Wenn wir den Staat als Gewaltapparat gegen die bevoelkerung betrachten, und als ein Instrument der Kapitalisten, sich als Klasse ueberhaupt konstituieren zu koennen, weil sie von ihrem Wesen her dazu nicht in der Lage sind, dann wird auch verstaendlich, warum alles getan werden muss, um jenen, die kraft ihres Seins eine Klasse "an sich" bilden, dieses Klassenverstaendnis zu dekonstruieren. Und, ehrlich gesagt, in deiner hymne fuer die reaktionaeren kalauer landauf/landab willst du nun alles versuchen, dem Staat ein neutrales gesicht zu verleihen. Du weigerst dich, Cicero ernst zu nehmen und schmierst auf das Niveau von Springer und Spiegel ab.

Das war ja nicht dein Anspruch in diesem text. Du wolltest ja erkleren, wie wichtig das Instrument "Staat" sei und wie hilflos sonst die Kapitalisten herum laufen. Nimm einen haufen von Egoisten und lass sie miteinander ringen. Was passiert? Sie bilden fraktionen, weil sie kein allgemeines Klasseninteresse haben. Aber dieses Klasseninteresse kann nicht aus den Postulaten entstehen, sondern nur aus dem realen Sein. So kam schon Adam Smith auf die Idee, dass die Summe eines haufens von Kapitalisten, Egoisten und Raeuber, etwas positives entstehen laesst. Die oesterreichische Schule fuer Oekonomie ruht genau auf diesem Kalauer: So viel Staat wie noetig, so wenig Staat wie moeglich. Sie, das ganze gesindel, die sich heute Neo-Liberalisten nennen, sind sich alle darueber im klaren, dass sie ohne Staat nicht agieren koennen.

Das interessante ist nun, dass innerhalb derer, die keinen Staat brauchen, weil sie ein reales Klasseninteresse aus ihrem Sein bereits haben, nun mit aller Macht auf die Notwendigkeit fuer einen Staat gearbeitet wird. Das war der konflikt zwischen Karl Marx und Michail Bakunin. Und Marx hat alles getan, um die 1.Internationale aufzuloesen, um Bakunin aus dem engeren Raum hinaus zu katapultieren. Karl Marx war Buerokrat und Apparatschik. Michail Bakunin war ueberzeugter Communist, ausgestattet mit dem Vertrauen zu den werktaetigen menschen, wie er es bei seinem Grossvater, dem Besitzer von 500 leibeigenen Familien, erlebt hatte. Sie haben den ganzen Hof gemeinsam organisiert. Die Lebenserfahrungen von Karl Marx waren ganz andere.

Es ist einfach laecherlich, sachlich reale begruendungen fuer einen Staat zu suchen, der selbst sowieso nicht existiert, sondern nur als Kopfgeburt durch die gesprochenen und geschriebenen texte flutet. Dir fehlt voellig das Klassenbewusstsein kreativer werktaetiger Menschen. So hast du keine referenz und suchst sie in religioesen Projektionen.

Unser Grundwiderspruch bleibt nach wie vor erhalten: zentral oder dezentral. Die Natur ist immer dezentral, hoch parallel. hoch vielfeltig. Das ist die Basis fuer ihre Kraft. Und was machen wir Menschen? Wir suchen pyramidale Strukturen, Zentralismen, weil wir die Vielfalt nicht ertragen, Zwangskoerperschaften, weil wir Angst haben vor freier Kooperation.

Das Gute daran ist, dass wenn wir uns der Natur zuwenden, wir notwendig uns der radikalen Dezentralitaet zuwenden. Du schreibst ja viel zur Harmonie mit der Natur, willst aber ihre radikalen Konzepte nicht uebernehmen. Du willst die Natur deinem reduktiven Zentralismus unterwerfen.

In meiner Praxis als Konstruktionsingenieur fuer technische Systeme habe ich gelernt, wie wichtig es ist, in jeder frage den kontituierenden Kern zu extrahieren. Erklaeren koennen wir es danach immer. Aber wir muessen die treibenden Energien verstehen, die das Geschehen bestimmen. Und, die Natur mit ihren Gesetzen ist nur wenig tolerant.

Auf der Suche nach den grundlegenden Prinzipien muessen wir notwendig die Geschichte der Menschheit mit ihren konfusen details etwas zur seite schieben und danach fragen, was wir brauchen und was uns dafuer zur verfuegung steht. Im Alten koennen wir das Neue nicht finden, nur sehen, wie das Gute vom Schlechten zertrampelt wurde.


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Produktivität usw

Beitrag von HCGuth »

vorab: Einwände und Debatte sind unvermeidlich. Sie stören die Lektüre zusammenhängender Argumentationen, erhellen sie aber auch oft. Ich löse das jetzt vorläufig so, dass ich die Debatte im thread weiterführe da wo sie entsteht, aber meinen eignen Text in einem Anschluss-thread fortsetze. (Darum bitte ich andre, hier in meinem Blog eher keine eignen threads zu eröffnen, sondern nur in einem der vorhandenen zu antworten. Es kann hier ja jeder sein eignes Blog aufmachen.)

[mention]willi uebelherr[/mention] : Grundsätzlich, ich analysiere, ich befürworte nicht. Du scheinst zu meinen, der Staat kommt bei mir zu gut weg, oder die Kapitalisten, weil ich nicht gleich widerspreche, wenn von ihnen behauptet wird (vor allem von ihnen selbst): Sie koordinieren und sorgen für - wenn auch prekären - Konsens. Klar tun sie das auch mit Gewalt, und ihre Rechtfertigungen sind dünn. Andererseits gibt es derzeit nicht viel Widerstand; wenn die Zustimmung der Mitmacher nicht freiwillig ist, dann wird sie zumindest auch nicht sichtbar widerrufen, oder schlägt gar in Aufstände um. (Mit denen ja auch noch nicht viel gewonnen wäre.)

Denn: Die globale Prodsuktion IST massiv zentralisiert, und um sie dezentral zu organisieren, müssten wir sie erstmal komplett um- und vor allem NEU aufbauen. Auf Anhieb, und wenn nicht noch viel andres dabei verändert wird, hiesse das: Der Bedarf nach Industriegütern explodiert - Redundanz, so wie gefordert, verlangt Herstellung massiver reserve- also "Über"-Kapazitäten, und Verbrauch riesiger Massen an Rohstoffen, Energie, Zwischenprodukten, Arbeit. Da, wo erstmal garnichts Industrielles produziert wird, wäre das VIELLEICHT, aber sicher kann man da nie sein, ein Fortschritt: in Afrika, beispielsweise. Die Vorstellung ist natürlich darum so albern, weil sie Übertragung der Lebensverhältnisse der derzeitigen urbanen Metropolen überallhin unterstellt. Sind die "stabil"? Und wenn nicht... in welche Richrung müsste man das abwandeln, was hinzuerfinden, was weglassen und vereinfachen? Wer soll das durchdenken, wer entscheiden, wer umsetzen?
Warum ist eine dezentrale Produktion wünschenswert? Warum sollte man seine Hoffnung nicht setzen auf immer weitergehende technische Revolutionen, Energie im Übermass, die Kernfusion, gekoppelt mit Bevölkerungsreduktion, die alle Probleme mit Energieeinsatz zu lösen erlauben wird? Warum keine immer weiter zentralisierte Gross- und Riesen- und Supra-Technologie? Inclusive irgendwann um 2050: DIE SINGULARITÄT (worin immer die besteht...)?

Das, was der Dezentralisierung doch am meisten widerspricht, sind die technischen Utopien und Visionen. Zentralisierung, immer weiter gesteigerte globale Arbeitsteilung, mit wieviel Reibungsverlusten, Umwweltzerstörung und Ausbeutung auch immer verbunden, ist doch Teil einer übergreifenden Strategie, die es auf immer weitergehende Steigerung von Produktivität abgesehen hat - und das so schnell wie möglich. Dafür sollen zwischenzeitlich Massenleiden und Zerstörungen nie gesehenen Ausmasses inkaufzunehmen sein, nicht anders, als in einer anderen Epoche, die nicht lang zurückliegt, der Aufbau der Grundlagen zur Einführung des Kommunismus (wer weiss, ob die KP Chinas es nicht nach wie vor DARAUF abgesehen hat...).

Die Frage ist hier wie dort: Wie wollen wir leben? Bloss, dass die Science-fiction-Utopie sie ganz anders beantwortet; und natürlich auch... ziemliche Härten für die gegenwärtig Lebenden, zugunsten der Zukünftigen, inkaufnimmt. Es wäre nun freilich nicht besser, wenn ein, sagen wir, überlegen nuklear bewaffneter Pol Pot und seine Organisation die Menschheit aufs Land und in eine technisch aufgerüstete Dezentralität zwingen würde.

Die Frage: Wie wollen wir leben? ist eine, die sich angeblich NOCH nicht stellt; weil wir ja ERSTMAL überhaupt die Mittel dafür bereit stellen müssen.
DAS ist die moderne Stellung zu Welt und Leben schlechthin: alles ein Mittel zur Mittel-Vermehrung. Kommt einem das bekannt vor? Genau: In Geldgrössen ausgedrückt, wurde dieser überaus abstrakte Prozess Akkumulation genannt, die Wieder-Investition von Überschüssen für Wachstum und zunehmend Forschung und Entwicklung (im Idealfall). Aber WÜNSCHENSWERT soll das doch sein und alle Opfer dafür rechtferigen, wegen des FORTSCHRITTS von unser aller Können, den "Produktivkräften" und Produktionspotentialen. Das ist die EINE, GROSSE VISION der industriellen Moderne. Das ist das Ziel, vor dem sich jede gesellschaftliche Organisationsweise dieses hoch-arbeitsteiligen Prozesses zu rechtfertigen hatte und hat, kollektivistisch, privatwirtschatlich, wie immer. Und das einzige, bei dem man erwägen könnte, ob es diesem unaufhaltsamen, weil bedingungslos gewollten Fortschrittsprozess noch Einhalt gebieten, und ihn modifizieren darf, ist "die Umwelt". Vielleicht, vielleicht auch nicht muss man auf sie ein wenig Rücksicht nehmen. Aber was immer wir an Schäden bereits angerichtet haben und anrichten werden, können wir doch nur wieder gut machen mit noch mehr Können, so die massgebliche Meinung: Alles vorübergehend, alles behebbar, wir müssen da durch, dann wird alles gut. Oder fast alles. Kollateralschäden sind unvermeidlich. Der Fortschritt ist alternativlos.
Und ähnlich ist es mit Rücksichten... auf Bedürfnisse; Mitspracherechte; "Minderleister": Allen und allem ist am Ende doch am meisten gedient ("auf lange Sicht"), wenn es VORÜBERGEHEND ignoriert wird.

Für Leute, die so denken, sind alle, die das Produktivitäts-Wachstum aufhalten und nicht wenigstens in noch fortschritts-dienlichere Bahnen lenken wollen, kriminell, verrückt, gefährlich.

Die zentralen Kontroversen, so behaupte ich, sind auf DIESER Ebene, derjenigen der grundsätzlich zu befürwortenden (Fortschritts)Richtung, die unser aller Produktion einschlagen soll, angesiedelt.
Und da müssen sie auch ausgetragen und entschieden werden.
Zuletzt geändert von HCGuth am 14.06.2020, 12:41, insgesamt 3-mal geändert.
Hans Christoph Guth


Thomas
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Re: Warum wir nicht weiterwissen

Beitrag von Thomas »

willi uebelherr hat geschrieben:
14.06.2020, 03:19
Hans (@HCGuth), bist du eigentlich Moderator in deinem blog? Oder koennen das die admins (@Thomas oder @Guido oder andere) so einrichten? Dann koennte die Zerfledderung doch in einem anderen Themenbereich stattfinden, was ich bevorzugen wuerde.
[mention]HCGuth[/mention] [mention]willi uebelherr[/mention]

Ich habe dich, Hans-Christoph jetzt zum Moderator deines Blogs gemacht. Wir haben vor, das in Zukunft mit allen zu machen, denen wir einen Mitgliederblog einrichten, so dass die Betreffenden den Blog nach eigenem Ermessen strukturieren und moderieren können.


willi uebelherr
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Re: Warum wir nicht weiterwissen

Beitrag von willi uebelherr »

Erstmal meinen dank an [mention]Thomas[/mention], er wirkt als wirklich sehr guter admin. meine hochachtung. Und wendet sich sofort einer loesung zu, wenn sie erkennbar ist.

Lieber Hans ([mention]HCGuth[/mention], ich danke dir fuer die fortsetzung dieser so wichtigen debatte. Zunaechst meine liste der triggerpunkte:

1) "Die globale Produktion IST massiv zentralisiert, und um sie dezentral zu organisieren, müssten wir sie erstmal komplett um- und vor allem NEU aufbauen."
2) "Das, was der Dezentralisierung doch am meisten widerspricht, sind die technischen Utopien und Visionen."
3) "Die Frage: Wie wollen wir leben? ist eine, die sich angeblich NOCH nicht stellt; weil wir ja ERSTMAL überhaupt die Mittel dafür bereit stellen müssen."

Ich beginne natuerlich mit 3). Klar, der ausgangspunkt fuer uns. Du selbst entziehst dich hier etwas, willst nicht erklaeren, wie du es selbst siehst. Du stellst aber keine frage an die MitleserInnen, wie sie es sehen. Erklaerst es als "Wesen der Moderne", wobei mir bisher noch nie eine vernuenftige erklaerung ueber den weg lief, was denn nun eigentlich "die Moderne" sein soll.

Ist die Moderne das, was kommt? Was noch nicht da ist? Ist Fortschritt nicht das gehen in die Moderne, die zu jeder zeit stattfand, weil es zu jeder zeit immer einen "Fortschritt" gab? Ist nicht jede aenderung oder erweiterung ein "Fortschreiten in die Moderne"?

Ich selbst verwende solche begriffe nicht, weil sie mir zu unspezifisch sind. Soziologen machen das gerne, Philosophen auch. Auch jene, die eines oder beides sein wollen und nicht genau wissen, weshalb sie so leben, wie sie leben. Von Fortschritt oder Moderne zu reden bedeutet immer fuer mich, nicht genau zu verstehen, worueber eigentlich geredet wird. Es sind Kalauers.

Die Frage: "Wie wollen wir leben?" bleibt zentral. Zwingt uns zum Nachdenken darueber, was eigentlich wichtig ist. Was soll eigentlich enthalten sein und was weggelassen werden kann. Wir entziehen uns allen Geldzwaengen, fragen nicht nach virtuellen kopfgeburtigen Staatskonstruktionen. Wir konzentrieren uns auf jene Raeume, in denen wir alltaeglich unterwegs sind. Der ganze ueberbau verschwindet erstmal und kann partiell wiederentstehen, wenn wir der meinung sind, das ist gut fuer uns. Das resultat sind Kriterien und Prinzipien, die wir anwenden. Ein grosser erfolg, wenn es zustande kommt.

Da die wirklichen Fragen industrieller produktionsweise fuer uns nicht zugaenglich sind und nur Maskeraden und Etiketten sehen, brauchen wir uns darum nicht zu kuemmern. Wir organisieren es so, wie es uns nuetzlich erscheint.

Dort, wo wir leben, wissen und kennen wir die Anforderungen fuer ein gutes Leben in Harmonie mit der Natur und koennen uns direkt dem zuwenden. Nichts steht dies im Wege. Gut, weil es nur im Kollektiv moeglich ist, brauchen wir das kollektive Bewusstsein und das Vertrauen in unsere kollektive Kraft. Aber vorher unsere eigene Zuwendung, die nicht durch Misstrauen und Pessimismus getruebt sein darf. Also Ueberzeugung wird benoetigt.

Das ganze geht also nur, wenn wir die gesetzten Rahmenbedingungen vollstaendig ignorieren und so tun, als koennten wir alles realisieren, was auch tatsaechlich realisierbar ist. Viele Moenche der Franziskaner und Dominikaner gingen damals, um das 12. jahrhundert, diesen Weg und kamen zu dem Ergebnis, aehnlich wie Epikur 3000 Jahre vorher, dass eigentlich nicht viel gebraucht wird, um ein gutes Leben fuehren zu koennen. Und soll das nun nicht mehr moeglich sein, weil die Produktivkraefte schon zu weit fortgeschritten sind? Wenn das so waere, dann waere irgend etwas grundsaetzlich fatal faul.

Weil es aber nicht so ist, kann ich sagen, dass die materiellen Bedingungen besser sind wie damals. Also der "Fortschritt" fuer uns auch nutzbar ist. Es kommt also mehr auf die Intentionen an, die uns leiten. Und wegen der sogenannten extremen Populationsausweitung? Etwa die Haelfte der Landmasse, selbst nur 1/3 der Erdoberflaeche, liegt brach und wartet auf natuerlichen Bewuchs. Was fehlt: Das Wasser.

Wir haben also eine Aufgabe, die die Menschheit vor etwa 8-10.000 Jahren maechtig ueberrollt hat. Und, ist sie loesbar? Ich denke JA. Ist sie loesbar auf der Basis des Privaten oder Staatlichen? Ich denke NEIN. Ich folgere, dass sie nur loesbar ist auf der Basis der freien globalen Kooperationen der lokalen Lebensgemeinschaften. Deswegen auch meine klare Orientierung hin zur radikalen Dezentralisierung, die damals und danach beendet wurde.

zu 2) Was hindert uns, die Technologie als Materialisation der Gesetze der Natur zur Entfaltung zu bringen? Grundsaetzlich und immer das Private und Staatliche. Also der Raub am Gemeinschaftlichen. Bei unserem nachdenken ueber "Wie wollen wir leben?" taucht das aber nicht auf. Auch nicht die privaten Geld- und Finanzsysteme. Unser Leben ruht auf unseren materiellen natuerlichen Existenzbedingungen und niemals auf viertuellen Symbolen oder Etiketten. Diese Kopfgeburten koennen wir alle weglassen und nichts fehlt uns.

zu 1) Nein, die "globale Produktion" ist nicht massiv zentralisiert, nur etwas. Zentralisiert sind die Handlungsraeume, die das ganze Gefuege organisieren. Und selbst dieses "Etwas" muss nicht sein und ist auch real so nicht durchgaengig existent. Die Auslagerung der herstellungsprozesse in Regionen mit geringen finanziellen Anforderungen ist nicht zwingend notwendig. Und selbst das Ausgelagerte ist zumeist hochgradig kleinteilig.

Hier gelten heute noch ganz andere Gesetze, die fuer uns nicht gelten muessen, weil wir anderen Intentionen folgen. Das Geschwaetz von der Notwendigkeit globaler Lieferstroeme ist nicht unseres. Wir schauen auf die materiellen Prozesse als einzigste Bedingung. Und, weil wir wissen, dass wir nur dann unsere Lebensweise selbst gestalten koennen, wenn wir oekonomisch unabhaengig sind, ist uns dieses Geschwaetz voellig egal.

An dieser Stelle unterscheiden wir uns. Du laeufst noch diesen Kalauern hinterher. Ich nicht.


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HCGuth
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Vorausssetzungen, Ziele und Prioritäten, Strategien

Beitrag von HCGuth »

[mention]willi uebelherr[/mention] : Lieber willi, wir sollten in unserem Dialog auseinanderhalten, was ich im Titel zu diesem Beitrag nenne. Das Wünschenswerte (Ziele und Prioritäten) ist auf vielfältige Weise mit Voraussetzungen verknüpft; etwa mit Umständen, unter denen wir leiden und die wir loswerden wollen; ein wichtiger Teil unserer Gesamtziele. Aber nur, wenn Massnahmen tatsächlich gegen diese Leidensursachen wirken, sollten sie auch zu den Zielen mit hinzugenommen werden. Andererseits mag es Wünsche geben, die wir noch auf lange Zeit hinaus nicht erfüllen können - sie im Zielkatalog mitzuführen, als wäre ihre Erfüllung bevorstehend, macht keinen Sinn. Schliesslich mögen Wünsche und leid-reduzierende Massnahmen realisierbar sein, aber nur, wenn bestimmte Voraussetzungen dafür geschaffen sind; aus solchen aufeinander aufbauenden Schritten, aus einer gegebnen Situation heraus, entwickelt man Strategien.
Die drei Abteilungen muss man nicht gegeneiander ausspielen, alle drei sind wichtig, und es ist gleichgülitg, von wo man startet, die andern beiden müssen hinzukommen.
Nebenbei sollte regelmässig gefragt werden: Ziele für wen? Wer will das eigentlich (ausser, mir, dir, uns wenigen...)?
Welche Gründe könnten andre haben, sich dem anzuschliessen (oder es zu verweigern), welche Gründe könnte man Aussenstehenden liefern usw?
(Was dann zT wieder zur Strategie gehört...)
Soviel zur Vieldeutigkeit der Frage: Wie möchten wir (?) leben?
-------------------------------
Meine Beiträge drehen sich eher um Voraussetzungen, und Erklärungen für Umstände, die wir (wer?) ablehnen und loswerden wollen.
Die weltweite Ungleichverteilung der Produktionsmittel spielt, aus meiner Warte, bei der Frage ihres kontrollierten Einsatzes für kollektive Zwecke (die aber WIE festgelegt werden?) eine Rolle. Wenn es nun so ist, wie du, willi, sagst (aber um das zu überprüfen, wären weit reichende Anstrengungen nötig), dass die in der Globalisierung ausgelagerten Produktionsschritte vieler Unternehmen garnicht so zahlreich sind, dann hätten wir es also eher statt mit der Zentralisierung einzelner solcher Schritte und ihrer Zerstreuung über viele produktionsstätten, mit der Konzentration ganzer "Wertschöpfungsketten" (in "Industrielländern", "Exportnationen" usw) zu tun, und die stellt jeden Regionalisierungsplan nicht minder vor ein Problem, nämlich weltweite "Redundanz" und regionale Verfügbarkeit aller wichtigen Produktionszweige erstmal herzustellen. Zumindest, wenn wir nicht auf die Produktionsniveaus zu Zeiten Epikurs und der Franziskaner-Gründung zurückfallen wollen. Allein deine Telekommunkation erfordert einen gewaltigen industriellen Unterbau, und Transport-Infrastruktur für benötigte Ingredienzien.

Selbst im Rahmen einer Strategie, wie ich sie befürworten würde, einer des weltweiten Umbaus der industriellen in eine radikalökologische Produktionsweise, ist schwer kontrollierbare Hochtechnologie, Industrie-Infrastruktur und Produktivität mit hohen Energie-Einsätzen auf einige Zeit hinaus vermutlich unentbehrlich. Denn wir finden da draussen keine unversehrte Natur mehr vor, mit der wir beim Aufbau einer weltweiten artenreichen Kulturlandlandschaft (das End-Ziel, das ich für solch einen radikalökologischen Umbau vorschlage) starten könnten, vielmehr eine vielfältig durchseuchte, zerstörte, verdrängte, verbrauchte (mit "Natur" meine ich vor allem die Biosphäre, aber auch die grossen geophysikalischen Systeme und die aus ihnen resutierende geographische Verteilung). Mag sein, dass wir auch noch dahin gelangen müssen, einige Grossrisiken und/oder behebbare Defizite wie Wüstenbildung mit technischen und/oder biologischen Mitteln auszuschalten oder zu reduzieren; dazu zählen zB. auch die Nuklearabfälle, die auf- und weggearbeitet werden müssen, oder die Folgen des Klimawandels. All das ordne ich ein unter die grosse Überschrift: Reparieren und Robustmachen (Risikoreduktion).
Die Ausnutzung derzeit vorhandener und weltweit verteilter Produktionsressourcen wird auch eingesetzt werden müssen, um mitzuhelfen, die Mittel für regionale Start-Voraussetzungen zu schaffen - möglichst überall gleichwertige. Da muss man dann aber schon sehr weitgehende Vorstellungen davon haben, welche raffiniert-einfacheren Techniken man da weltweit verteilen möchte (oder austauschen; vieles irgendwo Erfundene der Art mag auch anderswo nützlich sein).

Es nützt ebensowenig zu sagen, willi, es sei vor allem die Steuerung der Produktion, die zentralisiert ist (Konzernzentralen usw). Denn UNSER Problem ist; aus dem genannten Grund, genau diese Art Steuerung für einige Zeit gesellschaftlich, im Zusammenwirken vieler dezentraler Entscheidungs- und Informationsverarbeitungszentren, zustandebringen zu müssen.
Erst dann könnte auf der lokalen Ebene weitergewirtschaftet werden.
Was selbst in deiner Utopie, willi, einschliessen soll, das man weltweit in Verbindung, und mehr als das, dass man global kollektiv handlungsfähig bleibt (etwa in Katastrophenfällen, speziell wenn die zB Umsiedlungen nach sich ziehen usw).

Was ich beschreibe, ist eine Zielvorstellung, die Radikalökologie, darauf begründete Dezentralisierung mit einer bestimmten Form der Vergesellschaftung (zivilgesellschaftlich gestaltete Koordination und Konsensfindung) kombiniert - kombinieren MUSS. Die Frage aber, warum diese Produktionsrichtung eingeschlagen werden soll/wird/muss, ist noch garnicht erörtert worden. Natürlich ist das das eigentlich strittige Thema: Technik weiter wie bisher? oder Rückzug in Städte (Ökomodernismus)? Stagnation und/oder Degrowth, geplantes Zurückfallen auf ein bereits früher erreichtes technologisches Niveau? Oder eben... das radikalökologische Reparatur- und Renaturierungsprojekt?
Die Frage, wie Leute leben wollen, wurde da ebenfalls noch garnicht angesprochen: Wie Franziskaner? Wie Epikuräer? Wie... 1870?
Ein weites Feld...

Eins steht fest: Die Art, wie man produziert, wie arbeitsteilig, wie dezentral oder zentral, ist eine entscheidende Voraussetzung für die Art, wie man sich allenfalls vergesellschaftem kann (Kapitalismus, Staat, Sozialismus... kleine und grössere Gruppen). Und deswegen ist es so wichtig, dass Leute in erster Linie mal sagen, welche Art zu produzieren mit der Art vereinbar sein soll, wie sie leben wollen. Mal sehen, wie viele von denen da auch nur mit EINER anderen Person übereinstimmen...
Hans Christoph Guth


willi uebelherr
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Re: Warum wir nicht weiterwissen

Beitrag von willi uebelherr »

Lieber Hans ([mention]HCGuth[/mention]), bevor ich auf deinen letzten beitrag antworte, will ich dir und allen 2 links weiter geben, die allerdings noch mehr werden.

Post-Covid-19: Wie sollten Kosmologie und Ethik integriert werden (I)
Leonardo Boff (Brasilien), 15/06/2020
https://leonardoboff.org/2020/06/15/pos ... -werden-i/

Post-covid-19: Welche Kosmologie und Ethik sind einzubeziehen (II)
Leonardo Boff (Brasilien), 16/06/2020
https://leonardoboff.org/2020/06/16/pos ... ziehen-ii/

So mancher von uns wird so manche Einsprueche erheben wie ich auch, aber die Grundlinie stimmt.

mit lieben gruessen, willi


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Re: Warum wir nicht weiterwissen

Beitrag von willi uebelherr »

Lieber Hans ([mention]HCGuth[/mention]),

ich will nun auf deinen letzten beitrag naeher eingehen.

Perspektiven und Visionen

"Das Wünschenswerte (Ziele und Prioritäten) ist auf vielfältige Weise mit Voraussetzungen verknüpft; .."

Du beginnst mit den Beschraenkungen, die fuer mich allerdings erst im 2. Teil relevant werden. Naemlich dann, wenn wir die wege suchen, die wir dorthin gehen koennen. Betrachte es als einen Punkt am Horizont, den wir zu erreichen versuchen. Das Gute daran ist, wir haben eine Orientierung und wir befreien uns bei seiner bestimmung von allen konstruierten Beschraenkungen, die nicht aus unseren natuerlichen Existenzbedingungen ableitbar sind.

Es sind keine Utopien, weil sie sich im Raum des realisierbaren befinden. Wir koennen immer davon ausgehen, dass alle konstruierten Beschraenkungen den Interessen der herrschenden Klassen, den Eliten, gemaess entstanden sind und wegen ihrem kopfgeburtigen Wesen fuer uns keine Beschraenkungen sind, sondern wir damit beschraenkt werden sollen. Ob wir dies akzeptieren liegt ausschliesslich an uns.

Strategien

Sie koennen nur entstehen, wenn wir unseren Ist-Zustand mit unserem Soll-Zustand in Beziehung setzen. Es sind also transformationsstrategien. Dabei achten wir ausschliesslich auf unsere eigenen, selbst auferlegten Beschraenktheiten. Es ist fuer uns immer wichtig, die Akteure und ihre handlungsraeume getrennt zu betrachten. Ich bezeichne das als die "gehbaren Wege suchen", was aber identisch ist mit "Strategie" im Transformationsprozess.

Wer traegt unsere Ziele

Gut, da haben wir schon mal 2 gruppen. Wir selbst im engeren rahmen und die vielen anderen ausserhalb. Generell gilt, dass wenn die "Perspektiven und Visionen" auf positive Resonanz stossen, kann auch eine kooperative Traegerschaft entstehen. Nur, der Muehe, uns unsere eigenen beschraenkenden Einwuerfe kritisch zu reflektieren, koennen wir uns nie entziehen. Wir brauchen die geduld, diesen klaerungsprozess bis zu einer stabilen basis voran zu treiben. Dort sehe ich die hauptprobleme. Und je groesser diese kerngruppe wird, um so mehr fliessen all jene Skeptiken und kritischen Einwuerfe ein, wie sie auch im grossen offenen Raum existieren.

Und wir werden auch dort draussen das gleiche erleben wie bei uns da drinnen. Die selbst kreierten beschraenktheiten, "die selbst verschuldete Unmuendigkeit".

"Meine Beiträge drehen sich eher um Voraussetzungen, und Erklärungen für Umstände, die wir (wer?) ablehnen und loswerden wollen."

Lieber Hans, damit machst du dich zum Anhaengsel "kopfgeburtiger Beschraenkungs-Konstruktionen", die nur aus dem grund geschaffen werden, um dich und uns zu beschraenken. Sie haben keinen Eigenwert, keine reale Basis, sind vollstaendig im virtuellen raum der Dogmatik angesiedelt. Da hilft auch kein bezug zu unseren realen Existenzgrundlagen mehr, weil es sich vollstaendig ausserhalb dessen abspielt.

Diese uns beide praegende Grunddifferenz ist wohl die einzige Huerde, die sich uns in den weg stellt. Du kannst nicht loslassen von den erzaehlten geschichten und ich will mich nicht darauf einlassen. Wir agieren auf einem 2-teiligen Spielplatz mit einem Netz dazwischen.

Soll ich mich nun auf dieser grundlage mit den von dir angesprochenen details beschaeftigen? Geht doch gar nicht. Wir reden nur scheinbar ueber das Gleiche, weil es in wirklichkeit Verschiedenes ist.

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