Rechtssysteme und VerfassungRainer Mausfeld: Eigentum und Besitz als Machtverhältnisse und ihre Bedeutung für Fragen einer egalitären Demokratie

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Rainer Mausfeld: Eigentum und Besitz als Machtverhältnisse und ihre Bedeutung für Fragen einer egalitären Demokratie

Beitrag von willi uebelherr »

Eigentum und Besitz als Machtverhältnisse und ihre Bedeutung für Fragen einer egalitären Demokratie
Rainer Mausfeld, Aufstand 19/2021, 9.5.2021
https://deraufstand.wihuman.de/wp-conte ... -19-21.pdf

geschrieben fuer Debattenraum(.eu) und einige fb-Gruppen.

Liebe freunde,

Rainer Mausfeld hat auf eine Anfrage zur Stellungnahme von Juergen M. Hackbarth, Redakteur vom "Aufstand" und "Die Radikaldemokratie und das Besitzrecht", geantwortet:

"Welche Definitionen verwenden sie für "Eigentum" und welche für "Besitz" bei Ihren gesellschaftlichen Betrachtungen, damit wir Ihre hermeneutische Anwendung dieser Begriffe in Ihren Vorträgen, Artikeln und Büchern eindeutig verstehen können?"

Diese Trennung wird von Herrn Mausfeld deutlich zurueck gewiesen, weil beides letztlich Machtverhaeltnisse beschreiben. Es geht nicht um Verhaeltnisse von Personen zu einer Sache, sondern um Verhaeltnisse zwischen Personen zu einer Sache.

Ich habe diesen Text von Herrn Mausfeld aus dem pdf-file des "Aufstand" heraus genommen und in einen fliessenden Text wieder umgewandelt, weil die Redakteure vom "Aufstand" immer noch nicht in der Lage sind, zwischen Text und Format zu unterscheiden, wie es vor vielen Jahren ueblich war. Insofern ist es eigentlich ueberfluessig.

Aber Herr Mausfeld greift tief in die Geschichte zurueck, um deutlich zu machen, was eigentlich der Kern der Sache ist, wenn es um Demokratie geht.

"Die demokratische Legitimation der erzeugten Gesetze liegt also gerade in der demokratischen Prozedur ihrer Erzeugung. ... Angesichts der inhaltlichen Unbestimmtheit von Freiheit und Gleichheit kann deren Konkretisierung erst im demokratischen Gesetzgebungsprozess durch die gesellschaftliche Basis bestimmt werden.

Das gilt auch für das Recht auf Eigentum, das sich – entgegen großer Bemühungen in der Ideengeschichte - nicht auf der Basis eines Natur- oder Menschenrechts (wie bei Locke) oder vernunftrechtlich (wie bei Kant) demokratisch legitimieren lässt, sondern das sich nur im Prozess einer demokratischen Rechtsschöpfung bestimmen lässt."

"Für die strikte Trennung von Recht und Moral gibt es historisch wie systematisch sehr gewichtige Gründe. Historisch zeigt sich, dass der moralische Diskurs in der Regel von den jeweiligen Eliten usurpiert und expertokratisch funktionalisiert wird. Durch eine vorrechtliche Begründung von Recht würde der mit den demokratischen Rechtssetzungsverfahren streng institutionalisierte Weg einer rechtlichen Begründung umgangen und damit die demokratische Kontrolle ausgeschaltet werden..."

Der Text von Herrn Mausfeld ist gerade in unserer heutigen Zeit von so zentraler Bedeutung, weil wir uns ja mitten in einem Prozess der Erzeugung demokratischer Verhaeltnisse befinden, auf die wir leider nicht zurueck greifen koennen.

Nur, was mir wie immer fehlt, ist der Bezug auf den Betroffenheitsraum. Eine radikale und damit echte Demokratie kann nur ueber eine radikale Dezentralisierung stattfinden, deren konstituierenden Elemente die Gemeinden sind, also die lokalen Lebensgemeinschaften. Regionen sind von daher nur freie Kooperationen souveraener Gemeinden. Ich folge strikt der Trennung von souveraen und autonom, weil Autonomie die oekonomische Unabhaengigkeit vorraussetzt. Und ich verwehre mich strikt gegen den Mythos "hochkomplexer" gesellschaftlicher Hierarchien, die nur so scheinen, als waeren sie komplex.

mit lieben gruessen, willi
Asuncion, Paraguay

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Eigentum und Besitz als Machtverhältnisse und ihre Bedeutung für Fragen einer egalitären Demokratie
von Rainer Mausfeld

Das Thema "Eigentum" spielt in meinen Beiträgen nur eine sehr indirekte Rolle, nämlich nur insofern, als es mit zivilisatorischen Bemühungen im Zusammenhang steht, Machtexzesse gesellschaftlich einzuhegen und politische Macht radikal zu vergesellschaften. Daher ist es für meine Belange für eine Verständigung ausreichend, den üblichen Gebrauch dieser Begriffe in Rechtswissenschaften und politischen Wissenschaften zugrunde zu legen, ohne tiefer auf die dort gewonnenen Differenzierungen zu diesen Begriffen einzugehen. Mein Kernthema sind die Möglichkeiten einer Einhegung von Macht und einer radikalen Vergesellschaftung von Herrschaft, wie sie der in der Aufklärung gewonnenen egalitären Konzeption von Demokratie zugrunde liegen. Im ersten Teil werde ich kurz und unsystematisch die von mir zugrunde gelegten allgemeinen Aspekte zum Thema "Eigentum" ansprechen, im zweiten Teil ein paar Hinweise zu meinem thematischen Kontext und meinem roten Faden geben.

Eigentum ist bekanntlich in kapitalistischen Gesellschaften der Kern der Machtverhältnisse. Demokratie und Kapitalismus sind, wie vielfach aufgezeigt wurde, miteinander grundsätzlich unvereinbar. Bei Demokratie geht es wesentlich – auf der Basis der Anerkennung aller als Freier und Gleicher, ungeachtet ihrer faktischen Differenzen - um eine zivilisatorische Einhegung der Macht des Stärkeren und um Prozeduren einer Selbstgesetzgebung, also einer radikalen Vergesellschaftung von Herrschaft. Kapitalismus basiert aber gerade auf dem Prinzip der Macht des Stärkeren (Kapitalmacht bestimmt die Chancen auf einen Zugang zum öffentlichen Debattenraum, den Erfolg bei Wahlen, das Stimmgewicht bei politischen Entscheidungen, ja sogar den Einfluss auf den Prozess der Rechtserzeugung selbst).

Kapitalismus erzeugt zwangsläufig extrem asymmetrische Machtverhältnisse und damit extreme soziale Ungleichheit sowie gesellschaftliche Spannungen. Diese Ungleichheit soll durch die Eigentumsideologie gerade legitimiert werden. Die Eigentumsideologie und insbesondere Bemühungen um eine natur- oder vernunftrechtliche Legitimation von Eigentum sind jedoch mit der in der Aufklärung gewonnenen egalitären Demokratiekonzeption (anders als mit der an Locke anschließenden amerikanischen Konzeption einer "Repräsentativen Demokratie") nicht verträglich. Die in der westlichen Ideengeschichte dominierende "Sakralisierung des Eigentums" (Piketty) steht also der zivilisatorischen Leitidee von Demokratie diametral entgegen.

I. Allgemeine Bestimmungen, die auch ich meinen Betrachtungen – zumeist implizit – zugrunde lege:

1. Das Thema "Eigentum" ist ein ganz zentrales Thema der politischen Philosophie, wenn nicht gar der Kulturgeschichte. In kapitalistischen Gesellschaften ist es konstitutiv für die gesamte Gesellschaftsordnung. Man kann ihm also mit ein paar begrifflichen Definitionen nicht gerecht werden. Der abstrakte Eigentumsbegriff ist eine Entwicklung der politischen Ideengeschichte, insbesondere der Rechtswissenschaft und nur daraus verständlich. Die moderne Auffassung von Eigentum geht wesentlich auf Weiterentwicklungen des Römischen Rechts im Mittelalter zurück.

2. Folglich ist auch die Unterscheidung von Besitz und Eigentum, wie sie sich entwickelt hat, nicht mit unseren Alltagsintuitionen deckungsgleich, sondern steht dazu in vielfältigen Spannungsverhältnissen. Grob können wir sagen, dass man ein rechtliches Haben von einem tatsächlichen Haben (Besitz) unterscheidet, so dass Besitz als ein äußeres Machtverhältnis gilt, Eigentum als ein Rechtsverhältnis. Diese Unterscheidung ist historisch und systematisch zentral, weil sie ermöglicht, vorrechtliche Gemeineigentumsformen und rechtlich kodifizierte Formen unterschiedlicher Verfügung und Aneignung begrifflich zu fassen und zu differenzieren.

3. Eigentum ist ein Recht innerhalb eines Systems von Rechten, sein Verständnis verändert sich also in der Gesellschaftsgeschichte mit der Rechtsentwicklung. Eigentum lässt sich als das bestimmen, was ein Mensch als das Seinige beansprucht, so dass nur er frei darüber verfügen kann. Solche Vorstellungen finden sich bereits in frühen Gesellschaften, die über keinen Begriff des Eigentums verfügten.

4. Die Bestimmung "als das Meinige beansprucht" kann nun mit unterschiedlicher Betonung kontextualisiert werden im Sinne von "alles andere gehört mir nicht" (wie bei Rousseau) oder (wie bei Locke) als „es gehört keinem anderen“. Bei Rousseau wie bei Locke bedeutet Eigentum ein exklusives Gebrauchsrecht und den Schutz vor den Ansprüchen anderer. Doch bei Rousseau wird dies in eine gänzlich andere Perspektive eingebettet: Der Rechtsanspruch, durch den ein Besitz zu Eigentum wird, soll den Eigentümer vor seinen eigenen Begehrlichkeiten schützen („alles andere gehört mir nicht“) und schließt daher weitere Ansprüche an die Gemeinschaft aus. (Auch Besitz bedeutet zugleich den Ausschluss anderer und kann als Machtverhältnis gewaltige gesellschaftliche Konsequenzen haben. Dies zeigt noch einmal, dass man diese Begriffe nicht isoliert von ihrer ideengeschichtlichen Einbettung betrachten kann.)

5. Wir dürfen also kapitalistisches Eigentum nicht mit Eigentum schlechthin gleichsetzen: Eigentum in kapitalistischen Demokratie bedeutet etwas anders als Eigentum in vorkapitalistischen historischen Phasen.

6. Marx und Engels haben herausgearbeitet, dass es bei der Bestimmung von Eigentum nicht einfach um das Verhältnis einer Person zu einer Sache geht, sondern in erster Linie um das Verhältnis einer Person zu anderen Personen im Hinblick auf eine Sache (findet sich schon bei Kant), und dass es sich zudem überwiegend um Sachen handelt, die im Wirtschaftsprozess die entscheidende Rolle spielen, also um Produktionsmittel und Produkte – also um Fragen der Produktion und Verteilung. (Wenn ich in meinen Beiträgen auf das Thema "Eigentum" zu sprechen komme, meine ich in der Regel "Eigentum an Produktionsmitteln" u.ä.)

7. Selbst der Begriff "Besitz", der vordergründig noch am ehesten mit Alltagsintuitionen konform geht, ist nicht einfach die Beziehung einer Person zu einer Sache, sondern de facto ebenfalls die Beziehung einer Person zu anderen Personen in Bezug zu einer Sache, wie ein Blick ins BGB leicht erkennen lässt (viele Regelungen zum Besitz im BGB sind pragmatischer Natur und dienen der Sicherung des Rechtsfriedens – daher ist die Rechtsdogmatik zu diesem Thema so verwickelt und Alltagsintuitionen oft nur schwer zugänglich).

8. Privateigentum – Gemeineigentum – Staatseigentum:

a) Gemeineigentum ist dadurch bestimmt, dass es allen Mitgliedern einer Gemeinschaft gehört. Bezieht man sich etwa auf den Staat als Gemeinschaft, so gehört es also allen Staatsbürgern. Dabei ist natürlich die konkrete Verfügungsgewalt gesetzlich zu regeln. Anders beim Privateigentum, das einer natürlichen oder juristischen Person gehört, so dass diese über die Verfügung selbst bestimmen kann. Persönliches Eigentum ist Eigentum, das durch Gebrauch und Verbrauch unmittelbar dem Konsum dient und nicht als Arbeitsmittel im Produktionsprozess fungiert.

b) Was ist dann Staatseigentum? Staatseigentum ist nichts anders als Privateigentum des Staates. Die Vergesellschaftung der Produktion führt in kapitalistischen Ländern zum staatlichen Eigentum, also zu kapitalistischem Privateigentum in staatlicher Hand (an Stelle eines gesellschaftlichen Eigentums). Der Kapitalismus kennt also nur Privateigentum in diversen Formen. Auch das Eigentum von Bund, Ländern und Kommunen gilt laut Artikel 903 des Bürgerlichen Gesetzbuches als Privateigentum. Diese können also, ohne das Volk zu fragen, "mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen".

c) Das Gegenteil von Privateigentum ist nicht Staatseigentum, sondern Gemeineigentum. (Dies wird von Daniela Dahn in ihrem Buch "Wir sind der Staat! Warum Volk sein nicht genügt" in besonders prägnanter und anschaulicher Weise aufgezeigt.)

d) Der Konzeption des Privateigentums kommt im Kapitalismus eine große ideologische Bedeutung zu, weil sie dazu benutzt wird, etwas, das in der individuellen Sphäre sinnvoll ist, als ideologische Verteidigung von Privateigentum schlechthin zu missbrauchen und damit die von Rousseau betonte Begrenzungsfunktion aufzuheben.

II. Welche Rolle spielt das Thema "Eigentum" im Kontext von Betrachtungen zur Demokratie

9. Das große anthropologische Thema, in den das Thema "Eigentum" eingebettet ist, ist die Frage, wie sich eine „gerechte“ Gesellschaft organisieren lässt. Diese Frage findet sich bereits in wohl allen frühen Hochkulturen – beispielsweise in Indien, China, Mesopotamien, Ägypten und Griechenland -, also lange vor den Anfängen der politischen Philosophie, wie sie mit Namen wie Platon, Hobbes, Rousseau, Locke oder Kant verbunden ist. Diese frühen Betrachtungen waren in der Regel in die mythologischen Kontexte der jeweiligen Kultur eingebunden. Was sie jedoch einte, war die Einsicht, dass exzessiver Reichtum und die mit ihm verbundene Macht den sozialen Frieden – man sprach oft von "Harmonie" – zerstört und die Stabilität einer Gesellschaft gefährdet. Ein idealer, also "gerechter" Staat solle den gesellschaftlichen Frieden sichern, nicht zuletzt durch eine "gerechte" Verteilung des gemeinschaftlich hervorgebrachten gesellschaftlichen Reichtums. Insbesondere solle er die Bedingungen zerstören, unter denen die exzessive Akkumulation von Reichtum möglich wird.

Daher wurden – oftmals gerade auch von den jeweils herrschenden Eliten - überall Überlegungen zu (moderaten) Gegenmechanismen und gesellschaftlichen Schutzbalken angestellt, wie sich eine solche Selbstzerstörung einer Gesellschaft verhindern lasse. Beispielsweise wurden, nur scheinbar paradox, die ersten demokratischen Elemente im Athen der Antike im Auftrag der herrschenden Adelsgeschlechter durch Solon, einen brillanten Technokraten, eingeführt, um durch moderate Umverteilungen und erhöhte Partizipationsmöglichkeiten der Bürger einen Bürgerkrieg zu vermeiden und Interelitenkonflikte zu schlichten.

10. Derartige egalisierende Mechanismen lassen sich bereits bis in archaische Gesellschaften zurückverfolgen und gewannen mit dem Übergang zu Viehzucht und Landwirtschaft im Rahmen der sog. Neolithischen Revolution an Bedeutung. In den vorhergehenden Jäger- und Sammler-Gesellschaften waren diese Probleme weniger wirksam, da diese kaum in stabiler Weise hierarchisch organisiert waren, sondern überwiegend egalitär. (Der Klassiker hierzu ist Boehm, C. (2009). Hierarchy in the forest: The evolution of egalitarian behavior. Harvard University Press.)

Da der Mensch als Gattungswesen mehr als 90 % seiner gesamten Geschichte auf dieser Stufe des Jägers und Sammlers lebte, an deren soziale Organisationsformen er evolutionär angepasst war, ist es nicht überraschend, dass er mental für die dann erfolgte und sich sehr rasch beschleunigende soziale Ausdifferenzierung in hochkomplexe hierarchisch aufgebaute Gesellschaften ungenügend ausgestattet ist. Dieses "Defizit" muss also auf dem Weg der Zivilisationsentwicklung durch eine gesellschaftliche Konstruktion angemessener "Schutzbalken" ausgeglichen werden.

11. Zu diesen Schutzbalken gehören zivilisatorische Leitideen von „Gerechtigkeit“, wie sie etwa in der frühen chinesischen, indischen, ägyptischen und griechischen Ideengeschichte (in sehr unterschiedlicher Weise) entwickelt wurde. Mit diesen waren oft Leitideen von "Gleichheit" verbunden sowie Warnungen vor der gesellschaftszerstörenden Wirkung von großem Reichtum. Diese Warnungen durchziehen die gesamte Zivilisationsgeschichte (zur Ideengeschichte der Eigentumsfeindschaft gibt Adolf Künzli in seinem Buch „Mein und Dein“ von 1986 – leider nur noch antiquarisch erhältlich - eine umfassende und sehr gut lesbare Darstellung).

12. Das menschliche Streben nach Macht (und damit verbunden nach Reichtum) ist, wie schon in frühesten Hochkulturen bemerkt und beklagt wurde, unersättlich. Da bei allen anderen Lebewesen Begierden selbstlimitierend sind und durch eine rigide Instinktbindung in ein angemessenes Verhaltensrepertoire eingebunden sind, scheint es im Verlauf der Evolution des Menschen eine Entkopplung des Strebens nach Macht von einer solchen rigiden Instinktbindung gegeben zu haben, die nun in hochkomplexen hierarchischen Gesellschafsformen gewaltige destruktive Effekte zeitigen kann. (Die jüngere Kognitionsforschung hat, insbesondere auf der Basis von Chomskys Arbeiten, wichtige Einsichten in die mentalen Prinzipien gewonnen, die zu einer solchen Entkopplung von einer Instinktbindung geführt haben; diese Prinzipien hängen eng mit unserer Befähigung zu einer unbegrenzten Kreativität zusammen. Wie Wilhelm von Humboldt es ausdrückte: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das mental in der Lage ist, „aus endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch zu machen“.

13. Viele Autoren der Antike erkannten bereits, dass das Streben nach Geld und Reichtum deswegen so gefährlich sei, weil es in diesem Bereich keine offensichtlichen oder natürlichen Grenzen gibt. Platon war der erste, der eine psychologische Erklärung für die Unersättlichkeit nach Macht und Reichtum auf der Basis seiner Architekturkonzeption der Psyche versucht hat. Er nahm an – Freud hat daran angeschlossen und die moderne Kognitionsforschung hat dies ausdifferenziert -, dass die Psyche aus drei sehr unterschiedlichen Seelenteilen besteht, die oftmals miteinander im Konflikt liegen: dem Logos oder vernunfthaften Seelenteil, dem Thymos oder tatkräftigen Seelenteil, und dem Epithymetikon oder begehrenden Seelenteil. Dieser dritte Seelenteil stelle für das psychische Gleichgewicht eine permanente Gefahr dar und bedarf daher besonderer Methoden einer psychischen und zivilisatorischen Einhegung. Hier siedelt Platon auch das Begehren nach Geld und Macht an. Dieser Seelenteil sei „am größten in der Seele bei jedem einzelnen und nach Geld von Natur aus überaus unersättlich“.

Platon erkannte zudem, warum die Gier nach Reichtum und Besitz – im Gegensatz zu anderen Begierden – unersättlich ist. Denn diese sind gleichsam Meta-Begierden, die als Mittel dazu dienen können, andere Begierden zu erfüllen. Insbesondere Geld verstärkt und vergrößert also den Einfluss der Begierden, so dass man immer mehr Geld braucht, um immer mehr Begierden zu stillen. Ein Kreislauf, der seiner Natur nach grenzenlos ist und zunehmend gesellschaftlich destruktiv werden kann. Daraus resultierte Platons vehemente Ablehnung von Geld und Reichtum.

Da Platon diese Begierden als Teil der natürlichen Beschaffenheit des Menschen ansah und somit als nicht zu beseitigen, hielt er zivilisatorische Schutzbalken in Form von Besitzregeln für notwendig.

Auch Rousseau betonte die Haltlosigkeit des Besitzstrebens als eines Strebens nach den bloßen Mitteln der Bedürfnisbefriedigung. Er stellte fest, dass man, wenn man schon den Menschen in seiner Beschaffenheit nicht ändern kann, man zumindest die Gesetze so ändern könne, dass der Mensch gegen seine destruktivsten Eigenschaften geschützt wird.

14. Volksouveränität und Menschenrechte:

Der Witz der radikalen Demokratiekonzeption der Aufklärung, die auf der Idee der Volkssouveränität beruht, besteht gerade darin, dass die Rechte von Bürgern jetzt vollständig aus dem Verfahren der demokratischen Gesetzgebung abgeleitet werden müssen. Die einzige Voraussetzung ist, dass die gleiche Freiheit soweit gewährleistet sein muss, dass gleichheitssichernde Verfahrensnormen und auf dieser Grundlage einfache Gesetze gemeinsam erzeugt werden können. Das ist die Rousseausche Idee einer Prozeduralisierung von Volkssouveränität. Es hängt also allein vom demokratischen Prozess der Rechtssetzung ab, welchen Inhalt diese Gesetze haben. Die dabei erzeugten Gesetze sind, das ist der Kern der Volkssouveränität, jederzeit änderbar, so dass Demokratie ein permanenter geschichtlicher Lernprozess ist.

Im Gegensatz zu klassischen Konzeptionen, etwa von Aristoteles und Cicero, geht es bei der radikaldemokratischen Organisation des Gemeinwesens nicht darum, den Menschen zu verbessern und zu erziehen (zumeist nach den Zielvorstellungen der Eliten), sondern vielmehr darum, die Gesetze demokratisch so zu schaffen und zu gestalten, dass sie dem Menschen, so wie er faktisch ist, also mit allen seinen Schwachstellen, Rechnung tragen – also, wie Kant es ausdrückte, auch „für ein Volk von Teufeln“ funktionieren würden.

Um die Gesetze mit der Freiheit der Menschen vereinbar zu machen, müssen die Gesetzesunterworfen selbst die Gesetze ändern können. Es kommt also bei der demokratischen Gesetzgebung nicht auf den Inhalt der Gesetze an, sondern darauf, dass sie in demokratischer Weise hervorgebracht wurden. Dazu müssen alle die Möglichkeit haben, sich gleichberechtigt und unabhängig vom Willen anderer an der Erstellung von Gesetzen zu beteiligen, denen sie sich dann aus freiem Willen unterwerfen.

Die demokratische Legitimation der erzeugten Gesetze liegt also gerade in der demokratischen Prozedur ihrer Erzeugung. Als lernender Souverän sichert das Volk die Legitimation der Gesetze, die es sich selber gibt (was zwangsläufig Scheitern und Rückschritte miteinschließt). Auch Grundrechte sind daher lediglich demokratisch gesetztes Recht, ohne eine höhere, etwas naturrechtliche, Legitimation. Was ein Grundrecht ist und wie es genau zu bestimmen ist, geht also dem Prozess der demokratischen Rechtssetzung nicht voraus, sondern wird selbst erst im Prozess der demokratischen Rechtssetzung bestimmt. Angesichts der inhaltlichen Unbestimmtheit von Freiheit und Gleichheit kann deren Konkretisierung erst im demokratischen Gesetzgebungsprozess durch die gesellschaftliche Basis bestimmt werden.

Das gilt auch für das Recht auf Eigentum, das sich – entgegen großer Bemühungen in der Ideengeschichte - nicht auf der Basis eines Natur- oder Menschenrechts (wie bei Locke) oder vernunftrechtlich (wie bei Kant) demokratisch legitimieren lässt, sondern das sich nur im Prozess einer demokratischen Rechtsschöpfung bestimmen lässt.

Für die strikte Trennung von Recht und Moral gibt es historisch wie systematisch sehr gewichtige Gründe. Historisch zeigt sich, dass der moralische Diskurs in der Regel von den jeweiligen Eliten usurpiert und expertokratisch funktionalisiert wird. Durch eine vorrechtliche Begründung von Recht würde der mit den demokratischen Rechtssetzungsverfahren streng institutionalisierte Weg einer rechtlichen Begründung umgangen und damit die demokratische Kontrolle ausgeschaltet werden. Das moralische Argument kann dann leicht als Demokratieersatz missbraucht werden. In den Worten von Ingeborg Maus: „Unantastbar werden die Freiheitsrechte erst dadurch, dass nicht die Mächtigen, sondern die Machtlosen über die Art ihres Freiheitsgebrauchs befinden.“ Moralische Prinzipien müssen also erst durch demokratische Gesetzgebung und demokratischen Austausch konkretisiert und in positive Rechtsnormen umgewandelt werden. Kurz: Was als Moral rechtlich kodifiziert wird, kann nur durch die gesellschaftliche Basis selbst bestimmt werden. (Natürlich stellen unsere natürlichen moralischen Sensitivitäten eine wichtige psychologische Ressource im demokratischen Prozess der Rechtssetzung dar.)

Diese strikte Trennung von Recht und Moral bei der Rechtssetzung und Legitimierung von Recht hat verfassungsrechtlich gewaltige Konsequenzen. Ihre Begründung ist sehr komplex und bereitet oftmals erhebliche Schwierigkeiten des Verstehens, weil sie zum einen natürlichen Alltagsintuitionen widerspricht und zum anderen mit herrschenden Ideologien im Konflikt steht. Beispielsweise sieht auch das Bundesverfassungsgericht Eigentum als ein vor- bzw. überstaatliches Recht an, womit dann das Eigentumsrecht in seinem Fundament demokratischer Rechtssetzung völlig entzogen wäre. Dies führt in recht schwierige Bereiche, so dass ich hier nur auf die Arbeiten von Ingeborg Maus verweisen kann (beispielsweise „Zur Aufklärung der Demokratietheorie“, Kap. 8 oder „Justiz als gesellschaftliches Überich“, Kap. VIII). (Ingeborg Maus entwickelt auf der Basis der von Rousseau und Kant bereitgestellten radikaldemokratischen Bausteine eine solche Konzeption der Volkssouveränität in großer Tiefe und Kohärenz, wobei sie besonders denjenigen Problemen für eine solche Demokratiekonzeption Aufmerksamkeit widmet, die aus gegenwärtigen Organisationsformen einer extrem heterogenen und global vernetzten Gesellschaft resultieren.)

Die Eigentumsfrage ist also grundsätzlich nicht von der Frage einer demokratischen Legitimation von Rechtsnormen und damit von der Demokratiefrage abtrennbar.

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