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Thomas
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ZEIT-Gastbeitrag: Die digitalen linken Spießer

Beitrag von Thomas »

Es kommt ja selten vor, dass ich Artikel von ZEIT-Online wirklich lesenswert finde. Noch seltener kommt es vor, dass diese Artikel dauerhaft frei zugänglich bleiben, und nicht nach kurzer Zeit (wenn scheinbar viele Leute Interesse daran haben) hinter einer Bezahlschranke verschwinden. Was soll ich sagen, diesen Artikel finde ich sehr lesenswert und er bleibt scheinbar frei zugänglich, daher will ich ihn hier mal teilen:

https://www.zeit.de/kultur/2020-07/iden ... gsfreiheit

Der Artikel mag, allein wenn man die Überschrift liest, etwas provokant sein, aber er trifft m. E. in vielen Dingen den Nagel auf den Kopf, was bei bedeutenden Teilen der heutigen Linken falsch läuft. Sie wurden aus meiner Sicht schlicht und einfach vom kapitalistischen System assimiliert und sind nicht mehr systemkritisch, sondern vielmehr Unterstützer des Systems. In ihrer eingebildeten moralischen Überheblichkeit und ihrem Mangel an Selbstreflexion merken sie jedoch gar nicht, dass sie eigentlich nur benutzt werden. Der Autor beschreibt es finde ich ziemlich treffend mit den folgenden Stellen:

"Schlimmer als schlimm ist, dass sie sich immer noch widerständig und "alternativ" fühlen, obwohl sie längst einem kulturell tonangebenden Milieu angehören."

"Die linken Spießer begegnen allen unsensibel scherzenden oder gar andersdenkenden Zeitgenossen mit offener Verachtung, beweisen aber eine hohe Sensibilität, sobald man ihre eigene progressive Rolle in Zweifel zieht."

"Dass heute die AfD bei manchen Wahlen mehr Arbeiter-Stimmen erhält als jede andere Partei, ist in jedem Fall auch ein trauriges Zeugnis für die naserümpfende, spießig gewordene Linke, die in ihren schlechtesten Momenten zugleich den Eindruck erweckt, einen Klassenkampf "von oben" zu betreiben: eine Rebellion der tadellosen Vier-Zimmer-Altbau-Bourgeoisie gegen das schrecklich vulgäre, unaufgeklärte und politisch unkorrekte Proletariat."

Im Gegensatz zur Bezeichnung "linke Spießer" des Autors finde ich allerdings die Bezeichnung "Systemlinke" noch wesentlich treffender für diesen m. E. systemkonformen Ist-Zustand von bedeutenden Teilen der heutigen, vermeintlichen Linken.

Es begeistert mich ja fast, dass ein derartiger Beitrag überhaupt noch bei ZEIT-Online erscheint, wo üblicherweise Artikel erscheinen, die genau dem vom Autor beschriebenen Bild entsprechen ;-)


scilla
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Re: ZEIT-Gastbeitrag: Die digitalen linken Spießer

Beitrag von scilla »

ein schwieriger Artikel von Jan Freyn,
denn der Adressat seiner Kritik wird nie genannt
FREYN

Adressat Grün-Schwarz ?

Eine erstarrte und ins Pädagogische abgedriftete Linke, die sich durch ihre Weigerung bestimmt, "ihr eigenes Machtstreben zu reflektieren, ihren Aufstieg in den akademischen und kulturellen Institutionen" (Michael Hampe), ein dergestalt zur Karikatur verkommener Linksliberalismus, der vergessen hat, dass er nicht mehr unter allen Umständen subversiver Underdog ist, sondern sich an Universitäten oder in Social-Media-Kontexten explizite Machtzentren geschaffen hat, bringt einen epochalen Menschenschlag hervor: den digitalen linken Spießer.

Wie der Philosoph E.M. Cioran einmal hellsichtig bemerkt hat, kann es geschehen, "daß die Linke, die in die Mechanik der Macht verstrickt … ist, ihre Tugenden verliert, daß sie erstarrt und die Übel erbt, die gewöhnlich der Rechten eignen". Diese Beschreibung trifft unsere kulturelle Situation sehr genau.

Adressat Antifa ?

Die linken Spießer begegnen allen unsensibel scherzenden oder gar andersdenkenden Zeitgenossen mit offener Verachtung, beweisen aber eine hohe Sensibilität, sobald man ihre eigene progressive Rolle in Zweifel zieht.

...

Schlimmer als schlimm ist, dass sie sich immer noch widerständig und "alternativ" fühlen, obwohl sie längst einem kulturell tonangebenden Milieu angehören.

Adressat Greta Thunberg und die shitstormer ?

Ob die neuen Linken ernstlich dem Aberglauben anhängen, wonach sich ein historischer Akteur jederzeit am eigenen Schopf aus der Geschichte ziehen könnte, um aus dem ahistorischen Ideenhimmel das moralisch Richtige zu deduzieren, ist am Ende schwer zu sagen. Sicher ist nur, dass es sie unablässig danach drängt, sich öffentlichkeitswirksam als moralische Instanz zu präsentieren, und dass sich jeder echte Spießer – auch der linke und digitale – durch sein Bedürfnis verrät, permanent als besonders tadelloses oder moralisch sattelfestes Exemplar unserer denkwürdigen Spezies wahrgenommen zu werden.

Adressat Marxisten ?

Den dominanten Strang der gegenwärtigen Linken, die mit dogmatischen Lösungen flirtet, ohne ihren Underdog-Status aufgeben zu wollen, vermag dies ebenso wenig zu beunruhigen wie der Umstand, dass sie keine funktionierenden ökonomischen Konzepte hat, um der sozialen Frage zu begegnen


www.zeit.de/kultur/2020-07/identitaetsp ... ettansicht
der positiv konstruktive Beitrag im Artikel fällt klein aus
FREYN

Was die alte poststrukturalistische linke Avantgarde angeht, so bestach sie aus heutiger Sicht freilich durch ihren – für die linken Spießer der Gegenwart empörenden – Mangel an moralistischer Dogmatik.
Sie verehrte de Sade, studierte Heidegger und rehabilitierte mit Nietzsche einen der politisch unkorrektesten Autoren der Geistesge­schichte.

www.zeit.de/kultur/2020-07/identitaetsp ... ettansicht
und nach der Stelle, wo es für mich richtig spannend wird, kommt nichts
FREYN

Vielmehr brauche es idiosynkratische Einbildungskraft – "kreativen Sprachmissbrauch"

www.zeit.de/kultur/2020-07/identitaetsp ... ettansicht
der Autor erwähnt nicht den Untergang des Rock'n'Roll
SCHILL

Faktisch handelt es sich bei den Musikstücken und Filmen des 21. Jahrhunderts weniger um originelle Setzungen einer wunderbaren Gemütsverfassung als vielmehr um berechnete Verfügungsware für soziologisch beschriebene Anlässe.

http://www.preisgabe.de/die_vorbewusste_philosophie.pdf


willi uebelherr
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Re: ZEIT-Gastbeitrag: Die digitalen linken Spießer

Beitrag von willi uebelherr »

Lieber [mention]Thomas[/mention], mein Einspruch.

Dieser text ist es nicht wert, ernst genommen zu werden, weil er das zelebriert, was er eigentlich kritisieren will. Ich kenne den autor Jan Freyn nicht und weiss nichts von ihm. Aber er schreibt einen richtigen Absatz, dessen gehalt ihm wohl selbst sehr zu schaffen macht:

"Den dominanten Strang der gegenwärtigen Linken, die mit dogmatischen Lösungen flirtet, ohne ihren Underdog-Status aufgeben zu wollen, vermag dies ebenso wenig zu beunruhigen wie der Umstand, dass sie keine funktionierenden ökonomischen Konzepte hat, um der sozialen Frage zu begegnen – man denke etwa an die exorbitanten Mietpreise oder an die prekären Lebensbedingungen des neuen Dienstleistungsproletariats. Aber auch das ist nicht verwunderlich, kann doch ökonomische Konzeptlosigkeit überhaupt als ein Grund dafür angesehen werden, sich mit derart verbissenem pädagogischen Eifer auf das Feld der Kultur zu stürzen."

Das ist der kern des ganzen. Und Noam Chomsky und Theodor Adorno zu zitieren, die selbst das "Selbstbestimmungsrecht der Voelker" mit Fuessen getreten haben oder Noam Chomsky, der immer noch der offiziellen Luegen-Interpretation des 9/11-Ereignisses anhaengt, ist schon mehr als bloedsinnig. Gut, die intellektuelle Strenge ist nicht merkmal der als "Linke" bezeichneten Dummschwaetzer.

Aber, du siehst es richtig, nimmst aber Jan Freyn dabei heraus. Sie sind gekauft, agieren im parasitaeren politischen Ueberbau und muessen nun irgendwie versuchen, sich wichtig zu machen. Weil sie die Kernfragen wie die privaten Geld- und Finanzsysteme, den industriell-militaerischen Komplez, die private Kapitalakkumulation als einzigstes relevantes Faktum nicht anfassen wollen, verschieben sie ihren Diskurs in das "Feld der Kultur" und vielleicht Moral. Judith Butler mit Noam Chomsky auf einer Ebene abzuhandeln ist mehr als abstrus. Da liegen Welten dazwischen.

Die Frage, die mit diesem text aufgeworfen wird, ist eigentlich: Wer ist diese "Linke"? Ich sehe keine dominante Linke. Nirgendwo. Wer ist denn damit gemeint? Vielleicht Angela Merkel oder Bernie Sanders oder Sahra Wagenknecht oder wer?

Heinz-Joseph Bontrup hat immer darauf hingewiesen, dass der oekonomische Unterbau den politischen Ueberbau definiert. Und wenn dieser Unterbau vollstaendig diktatorisch und oligarchisch strukturiert ist, dann gilt dies natuerlich auch fuer seinen politischen Ueberbau, weil er nur der deckel fuer den Topf ist, um den es eigentlich geht.

Und wenn wir das ernst nehmen, dann ist dieser text der gleiche Schrott wie all das, was er skizziert bei den anderen.


scilla
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Re: ZEIT-Gastbeitrag: Die digitalen linken Spießer

Beitrag von scilla »

willi uebelherr hat geschrieben:
19.07.2020, 18:35
(1) Die Frage, die mit diesem text aufgeworfen wird, ist eigentlich: Wer ist diese "Linke"?

(2) Heinz-Joseph Bontrup hat immer darauf hingewiesen, dass der oekonomische Unterbau den politischen Ueberbau definiert. Und wenn dieser Unterbau vollstaendig diktatorisch und oligarchisch strukturiert ist, dann gilt dies natuerlich auch fuer seinen politischen Ueberbau, weil er nur der deckel fuer den Topf ist, um den es eigentlich geht.

(3) Und wenn wir das ernst nehmen, dann ist dieser text der gleiche Schrott wie all das, was er skizziert bei den anderen.

zu (3)
wir könnten den Text dahingehend verbessern, daß wir die Adressaten benennen

und uns dann in einem zweiten Schritt überlegen,
welche Argumente den real existierenden Kapitalismus aushebeln

zu (2)
dieses Argumente verkennt, daß die Staatsdienstleistungen von stink normalen Menschen erbracht werden,
die sich große Mühe geben, niemanden zu diskriminieren

dieses Argument trifft nur für die gleichgeschalteten Apparatschiks und korrupten Funktionäre zu

zu (1)
angesichts des lediglichen Teiltreffers durch das Erklärungskonzept 'ökonomischer Unterbau - politischer Überbau'
ist nicht ausgemacht,
daß alles derzeit schlecht ist und von Grund auf umgestaltet werden müsste

für die Miesepeter gilt vielmehr
Adressat Marxisten ?

Den dominanten Strang der gegenwärtigen Linken, die mit dogmatischen Lösungen flirtet, ohne ihren Underdog-Status aufgeben zu wollen, vermag dies ebenso wenig zu beunruhigen wie der Umstand, dass sie keine funktionierenden ökonomischen Konzepte hat, um der sozialen Frage zu begegnen.

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Re: ZEIT-Gastbeitrag: Die digitalen linken Spießer

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scilla hat geschrieben:
20.07.2020, 12:12
willi uebelherr hat geschrieben:
19.07.2020, 18:35

(2) Heinz-Joseph Bontrup hat immer darauf hingewiesen, dass der oekonomische Unterbau den politischen Ueberbau definiert. Und wenn dieser Unterbau vollstaendig diktatorisch und oligarchisch strukturiert ist, dann gilt dies natuerlich auch fuer seinen politischen Ueberbau, weil er nur der deckel fuer den Topf ist, um den es eigentlich geht.
zu (2)
dieses Argumente verkennt, daß die Staatsdienstleistungen von stink normalen Menschen erbracht werden,
die sich große Mühe geben, niemanden zu diskriminieren

dieses Argument trifft nur für die gleichgeschalteten Apparatschiks und korrupten Funktionäre zu
Sagt "VOLLSTÄNDIG diktatorisch und obligatorisch" nicht genau das aus, was du als Mangel vorwirfst, nämlich dass genau niemand diskrimiert wird, sondern alle der gleichen Diktatur der Staatsdienstleister ausgesetzt sind?

Martha


scilla
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Re: ZEIT-Gastbeitrag: Die digitalen linken Spießer

Beitrag von scilla »

Martha,

ich dachte da an Polizisten, die sich jedesmal neu auf die Situation einstellen,
freundlich den Vorfall aufnehmen
und sich dem Angezeigten gegenüber keineswegs böse verhalten

das ist meine Erfahrung

ich habe auch mal das Landratsamt angerufen,
nach dem mich zwei Stellen im Rathaus abgewimmelt hatten

innerhalb einer halben Stunde war die Baustelle dicht

Ordnung ist doch nicht schlecht!

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