Aufrüstung, Machtdemonstration, Kalter KriegProf. Ulfried Geuter (Grüne) rechnet mit der fatalen Kriegspolitik seiner Partei ab

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Guido
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Prof. Ulfried Geuter (Grüne) rechnet mit der fatalen Kriegspolitik seiner Partei ab

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Gründungsmitglied Grüne, Austrittsschreiben:
Ich war einmal froh und stolz, ein Grüner zu sein. Als sich die rot-grüne Bundesregierung gegen den vereinten Druck der konservativen Presse dafür entschied, nicht beim Angriffskrieg US-amerikanischer und britischer Truppen auf den Irak mitzumachen. Als sich der grüne deutsche Außenminister Joschka Fischer 2003 auf der Münchner Sicherheitskonferenz dem US-amerikanischen Verteidigungsminister Rumsfeld entgegenstellte und so die Konfrontation mit der Hegemonialpolitik des Nato-Partners USA wagte, während Angela Merkel als Oppositionsführerin in einem einmaligen Akt der Unterminierung deutscher Außenpolitik in die USA reiste, um George Bush zu versichern, dass eine CDU-FDP-Regierung bei diesem Angriff mitgemacht hätte. Da konnte ich froh und stolz sein, ein Grüner zu sein.
Heute, wo Anton Hofreiter und Annalena Baerbock das Wort in der grünen Außen- und Sicherheitspolitik führen, kann ich es nicht mehr.
Heute, wo eine grüne Außenministerin nicht den Mut hat, einen Botschafter einzubestellen, der den Bundespräsidenten und den Bundeskanzler, unflätig beleidigt und der einen Politiker verehrt, dessen Organisation sich im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Wehrmacht an Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung in der Ukraine beteiligte.
Heute, wo es nicht mehr oberstes Ziel grüner Außenpolitik ist, Kriege zu beenden und Leid zu vermeiden, sondern wo sie nur eine Richtung kennt: immer mehr und schlagkräftigere Waffen zu liefern, um dann eventuell “mit dem Colt auf dem Tisch” verhandeln zu können. Wo grüne Außenpolitik Frieden durch Sieg im Krieg erreichen will, wenn Annalena Baerbock als Ziel ausgibt, dass die Ukraine den Krieg “gewinnen” müsse. Grüne Außenpolitik wird von diesem Ziel getrieben – und unterscheidet sich damit nicht von der Außenpolitik des einstmals glühenden George-Bush-Verehrers Friedrich Merz und der Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Wer nur das Ziel ausgibt zu siegen, hat sich bereits der Logik des Krieges überlassen, ist geistig im Krieg und hat keine Handlungsmacht mehr, sich gegen den Krieg selbst zu stellen und politisch dessen Beendigung als oberstes Ziel zu verfolgen. Die US amerikanische Historikerin Barbara Tuchman hat am Beispiel des Ersten Weltkriegs gezeigt, dass eigentlich keiner diesen Krieg wollte, aber Europa in Stücke ging, weil alle sich auf den Krieg als politisches Mittel einließen.
Ich bin am 5. Oktober 1978 beim Gründungstreffen der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz, die 1980 in die neu gegründeten Grünen überging, Mitglied geworden. Länger als ich kann man also nicht Mitglied der Grünen sein. Über 45 Jahre. Die gehen zu Ende. Wie Antje Vollmer in ihrem letzten Essay schrieb, haben die Grünen ihre friedens- und umweltpolitischen Ideale geopfert “für das bloße Ziel, mitzuspielen beim großen geopolitischen Machtpoker.” Daher trete ich aus.
Den letzten Ausschlag gegeben hat die Attacke von Anton Hofreiter gegen die vernünftige Politik von Olaf Scholz, keine Taurus-Raketen liefern zu wollen, eine Attacke in Koalition mit Merz und Strack-Zimmermann. Hofreiter bezeichnet die Weigerung von Scholz als “unverantwortlich”. Joe Biden hingegen erklärt, keine langstreckenfähigen ATACMS liefern zu wollen, um einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden. Nach Einschätzung von Militärs wie Ex-Brigadegeneral Erich Vad, ehemaliger militärpolitischer Berater von Angela Merkel, würde die Lieferung von Taurus das Kriegsgeschehen eskalieren. Übernimmt Hofreiter dafür die Verantwortung? Und dafür, dass durch die Lieferung jeder weiteren schweren Waffe die Grenze verschwimmt, jenseits derer die Nato Kriegspartei wird, wie der Ex-Brigadegeneral Helmut Ganser sagt?
Was soll eigentlich das Ziel der Lieferung zuerst von Leopard-Panzern und jetzt von Taurus-Marschflugkörpern sein? Sie können nichts daran ändern, dass Russland über das größere Potential zur Eskalation des Krieges verfügt als die Ukraine. Sollen dann noch mehr Waffen geliefert werden, wenn Russland weiter eskaliert? “Sehen die Befürworter [von Waffenlieferungen] das Risiko der Eskalation bis zum Atomkrieg nicht?”, hat Christian Ströbele im April 2022 gefragt. Sie scheinen heute damit zu spielen, um sich moralisch auf der richtigen Seite fühlen zu können.
Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit einem ukrainischen Politiker, in dem dieser äußerte, er habe keine Angst vor einem atomaren Krieg, weil die technologisch überlegene USA bei einem atomaren Schlagabtausch schneller wäre als Russland. Wie verblendet muss man sein, aus Gründen der Gerechtigkeit mit der Verwüstung der Nordhalbkugel zu spekulieren? Auch Annalena Baerbock und Anton Hofreiter scheinen geblendet zu sein von der vermeintlichen Überlegenheit westlicher Waffen und die militärische Konfrontation mit der stärksten Atommacht der Welt nicht zu scheuen. Erich Vad hat realistisch darauf hingewiesen, dass Russland eher zu Nuklearwaffen greifen würde als sich strategisch aus der Schwarzmeerregion herauszuziehen. John F. Kennedy sagte einmal 1962, Atommächte müssten Konfrontationen vermeiden, “die einem Gegner nur die Wahl eines demütigenden Rückzugs oder eines Atomkriegs lassen.”
Mark Milley, bis September 2023 US-amerikanischer Generalstabschef, sagte, dass es keine militärische Lösung geben kann. Ex-Nato-General Harald Kujat bezeichnet es als Fanatismus, wenn Politiker davon reden, die Ukraine werde siegen, weil sie siegen müsse. Russland hat bereits taktische Atomwaffen nach Belarus verlagert und besitzt zehnmal mehr taktische Atomwaffen als die Nato in Europa hat. Deren Einsatz ist ein reales Risiko. Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser, ehemals deutscher Vertreter bei der Nato, kritisiert, dass das leichtfertig übersehen wird. Und er schreibt, dass die berechtigte Entrüstung über Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht das “Beschreiten von Wegen” blockieren dürfe, “die weit Schlimmeres verhindern”.
Davon ist in der grünen Außenpolitik nichts zu sehen. Keine einzige Initiative der Außenministerin, wenigstens zu einem Waffenstillstand zu kommen. Stattdessen erklärt sie vor dem Europarat: “Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland”, und zeigt so, wie sie denkt. Grüne Außenpolitik hat heute das Hauptziel, Russland zu demütigen, obwohl die russische Führung zigfach zu verstehen gegeben hat, eher zu Atomwaffen zu greifen als sich demütigen zu lassen. Medwedew erklärte im Februar letzten Jahres, wenn die USA eine Niederlage Russlands wollten, habe man das Recht, zu Atomwaffen zu greifen. Taurus liefern um zu siegen, heißt nichts anderes, als eine Politik zu verfolgen, die Russlands Niederlage militärisch erzwingen will.
Wer bei Solidarität in erster Linie an Waffenlieferungen denkt, der begreift Solidarität kriegerisch als Waffenbrüderschaft. Wer die Parole “Weiter bis zum Sieg” ausgibt, denkt nicht an die zahlreichen weiteren Toten, Verstümmelten und Traumatisierten, die diese Politik kostet. Wieso ist eigentlich der Schutz von Grenzen für die grünen Außenpolitiker wertvoller als der Schutz von Leben?
In der Schule habe ich einmal die alte römische Weisheit gelernt, dass man bei allem was man tut, an das Ende denken soll. Wo soll die Politik des Siegen-Wollens hinführen? Die bedingungslose Kapitulation Russlands, die Selenskyj verlangt, kann nur in einem epischen Krieg, einem Dritten Weltkrieg erreicht werden, der Europa oder sogar die Nordhalbkugel verwüsten könnte.
Und wenn Russland ohne einen Atomkrieg besiegt werden könnte, wäre es dann ein weniger gefährliches Russland? Deutschland führte den Zweiten Weltkrieg, weil es besiegt, durch Reparationen gedemütigt und ökonomisch enorm geschwächt war. Es kurbelte die Wirtschaft durch eine Kriegswirtschaft an, die ab Ende der 1930er Jahre nur noch als Raubökonomie weiter existieren konnte. Würde nicht ein geschwächtes Russland ein weit gefährlicheres Russland sein?
So weit vermag Baerbock nicht zu denken. Im Februar 2022 verkündete sie, man wolle Russland durch Sanktionen “ruinieren”. Nichts davon ist eingetreten. Als Folge der Sanktionen wurde Russlands Band zu den größten Ländern der Erde, China und Indien, und zum afrikanischen Kontinent gestärkt. Die Blockbildung der BRICS-Staaten verfestigte sich bis hin zu den ersten gemeinsamen Seemanövern von Russland, China und Südafrika.
Wer ein Wort wie “ruinieren” verwendet, will demütigen, ohne daran zu denken, dass Deutschland Krieg führte, um das bolschewistische Russland zu vernichten. Aber Lehren aus der Geschichte werden in der grünen Außen- und Sicherheitspolitik ohnehin nicht mehr gezogen. Sie ist geschichtsblind geworden. Und getrieben davon, westliche Hegemonie zu bewahren.
Am 3. Oktober 2023 dankte Annalena Baerbock nur den Westallierten für die Wiedervereinigung, obwohl sich die russische Führung sehr darum verdient gemacht hat, während England sie zu verhindern suchte. Entweder weiß Baerbock das nicht oder sie verdreht die Tatsachen. Beides disqualifiziert sie für ihr Amt. Respektlos blieb sie der Beerdigung Gorbatschows fern.
Bei den Grünen haben diejenigen außenpolitisch das Sagen bekommen, die nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass der Westen, Europa und Nordamerika, die Rolle als Hegemon verloren hat. Baerbock versucht die verlorene militärische und ökonomische Dominanz durch eine moralische zu ersetzen. Daher reist sie als Lehrmeisterin durch die Welt und verkündet überall was geschehen „soll“ oder „muss“. Das nennt sich wertegeleitete Außenpolitik und heißt, Chinas Staatschef bei einem offiziellen Besuch als Diktator zu bezeichnen oder auf dem G-20-Gipfel Lawrow mit erhobener Faust zuzurufen “Hören Sie auf mit dem Krieg”. Mit solchen Gesten kann sie sich als Gerechte fühlen und bei denjenigen punkten, die in Deutschland Empörung mit Vernunft verwechseln und sich wohl damit fühlen möchten, dass unsere Außenministerin ihnen zeigt, zu den Guten zu gehören und den Bösen entgegenzutreten. Für Assange setzt sie sich nicht ein, und Elon Musk wird nicht kritisiert, wenn er sein Satellitennetzwerk Starlink rund um die Krim abschalten lässt, um das Versenken der russischen Schwarzmeerflotte mit satellitengestützten Unterwasserdrohnen zu verhindern. Er ist ja US-Amerikaner. Wenn Ricarda Lang in einem Interview mit der Berliner Zeitung sagt, Russlands Angriff richte sich “gegen die Demokratie als solche”, wird Analyse durch pures Geschwafel ersetzt.
Die wertegeleitete Außenpolitik von Baerbock setzt Empörung an die Stelle der Vernunft und erliegt so dem populistischen Sog, die Gefühle einer sich nach Gerechtigkeit sehnenden Anhängerschaft zu befrieden. Erreicht hat Baerbock damit bisher nichts. Sie inszeniert sich selbst als Gute, statt mit den Mitteln der Diplomatie zu versuchen, irgendetwas und sei es auch nur ein klein wenig besser zu machen. Eine politisch zielführende Strategie hat diese Außenpolitik nicht. Denn strategisch handeln heißt nicht, zu sagen was man sich wünscht, sondern dafür zu arbeiten, was für das Wohl der Menschen und die eigenen Interessen möglich ist. Der kluge Egon Bahr sagte einmal, dass es in der internationalen Politik um die Interessen von Staaten gehe. Baerbocks Politik folgt nicht Interessen, sondern moralischen Imperativen. Der ehemalige Leiter des Grundsatzreferates im Auswärtigen Amt Hellmut Hoffmann charakterisierte diese Haltung treffend so: “Es walte Gerechtigkeit, auch wenn die Welt zu Grunde geht.”
Vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine galt es als Teil der Menschenrechtspolitik der Grünen, gegen korrupte Regime zu sein. Nach dem Korruptionsindex von Transparency International lag die Ukraine am Beginn des Krieges auf Platz 122. Kein Land in Europa galt als korrupter als die Ukraine. Der Komiker Selenskyj wurde von dem Oligarchen Ihor Kolomojskij durch die Macht des Fernsehens ins Amt gehievt.
Wer in der Ukraine gegen die Interessen der Oligarchen antrat, hatte keine Chance. Heute sitzt Kolomojskij selbst im Gefängnis, während Selenskyj durch das Kriegsrecht seine Autokratie ausbaut. Das wird alles vergessen.
Lawrow sagte letztes Jahr in Peking, Friedensgespräche seien möglich, wenn eine neue Weltordnung ohne Hegemonie der USA entstehe. Trauen können wir dem nicht. Aber wie Barbara Tuchman festgestellt hat, muss man die Perspektive des Gegners sehen können, um nicht in den Krieg hineinzurutschen. Grüne Außenpolitik jedoch beharrt darauf, die westliche Hegemonie zu verteidigen. Wenn der Westen nicht bereit ist anzuerkennen, dass die Welt multipolar geworden ist und er seine Vormacht über die Welt verloren hat, und stattdessen mit moralischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln weiterhin um diese Vormacht kämpft, muss er damit rechnen, dass die Weltordnung in einem großen Dritten Weltkrieg verändert wird, so wie die Dominanz Europas und Japans durch den Zweiten Weltkrieg gebrochen wurde. Wer glaubt, dass Russland die Atomwaffen, die es hat, niemals einsetzen wird, ist naiv. Putin weist ständig auf deren Einsatzbereitschaft hin, und er zeigt schon im konventionellen Krieg, dass er vor Eskalation nicht zurückschreckt. Das mögliche Handeln Russlands ist nur aus den Kräften der Geschichte und der Eigenlogik von Kriegen zu verstehen. Wer denkt, Russland würde niemals Atomwaffen einsetzen, hält sich im Grunde für den eigentlichen „Putin-Versteher“, weil er glaubt, dessen mögliches Handeln rational kalkulieren zu können.
Die Grünen aus der Gründergeneration wussten noch, dass es in Europa keinen Sieger geben wird, wenn hier ein Krieg ausbricht. Die Grünen von heute tönen im Chor mit anderen, bis zum Sieg kämpfen zu wollen, angeführt von Hofreiter und Baerbock, die die kluge Grüne Antje Vollmer als “schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie” bezeichnet hat. Mit dieser Politik, die der Logik des Krieges folgt und die Sicherheit Europas und der Welt aufs Spiel setzt, um sich als die Gerechtesten der Gerechten fühlen zu wollen, habe ich nichts gemein. Daher trete ich aus den Grünen aus.
Prof. Dr. Ulfried Geuter
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