Aufklärung, Kommunikation und MedienMerkel bei Will, was sie uns eigentlich sagen wollte?

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Guido
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Merkel bei Will, was sie uns eigentlich sagen wollte?

Beitrag von Guido »

Die Stunde gestern, Merkel bei Will, sollte man sich ruhig noch mal in Ruhe ansehen. Was viele Zuschauer nur so nebenbei wahrnehmen, hat bei Merkel immer Hintergründe und System. Eine interessante Analyse von Erik Flügge zum Auftritt von A. Merkel bei A. Will.
https://twitter.com/erik_fluegge/status ... 52033?s=20

Die Kanzlerin hat gestern einen bemerkenswerten Auftritt bei Anne Will hingelegt.
Sie verwandelte ihr Scheitern mit dem Oster-Lockdown in eine für Merkel äußerst ungewöhnliche Offensive gegen die Ministerpräsident:innen.

I. Warum geht die Kanzlerin zu Anne Will?

In der Politikwissenschaft bezeichnen wir diese Strategie als "going public" (die Öffentlichkeit suchen). Regierungschefs wenden sie an, wenn sie intern nicht mehr weiterkommen, bzw. ihre Autorität nicht mehr akzeptiert wird.
Das ist bei Merkel der Fall. Sie setzt sich in den Sitzungen mit den Ministerpräsident:innen nicht mehr durch.
Sie hat aber nicht nur Autorität in Gremien, sondern als Kanzlerin auch öffentliche Autorität. Diese hat sie nun bei Anne Will in die Waagschale geworfen, um die Ministerpräsident:innen unter Druck zu setzen.

II. Zu wem hat Merkel gestern gesprochen?

Für viele Bürger:innen blieb Merkels Auftritt gestern rätselhaft. Wer sich konkrete Antworten der Kanzlerin erhoffte, wurde enttäuscht. Für politische Akteure hingegen war der Auftritt gestern maximal aufschlussreich.
Merkel richtete sich vor Millionenpublikum gar nicht an die große Öffentlichkeit, sondern ganz strategisch an die Ministerpräsidenten und ihre eigene Partei.
Sie wählte dafür das Mittel der größten deutschen Talkshow bewusst, weil jetzt die gesamte Bevölkerung weiß, was Merkel von den Ministerpräsident:innen und von ihrer Partei fordert. Wer jetzt davon abweicht, stellt sich öffentlich gegen die Kanzlerin.

Was hat Merkel den Ministerpräsident:innen gesagt?

Merkel wurde gestern ungewöhnlich deutlich. Anne Will fragte, "verstößt Armin Laschet gegen die Vereinbarungen?" - Die Kanzlerin antwortete: "Ja, aber er ist nicht der Einzige."
Das ist ein klarer Angriff auf den Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten des größten Bundeslandes. Auch andere Ministerpräsidenten wurden nicht geschont. Namentlich kritisierte sie Hans (CDU) im Saarland und Müller (#SPD) in Berlin.
Deutlich wurde auch, welche Konsequenz sie bereit ist zu ziehen, wenn diese ihr nicht folgen:

Sie kündigte an, aktuell darüber nachzudenken, dass sie das Mittel des Infektionsschutzgesetzes ausweiten könnte, um bundeseinheitlich schärfere Regeln zu verhängen. Das käme praktisch einer Entmachtung der Ministerpräsident:innen in der Krise gleich.
Eine Botschaft, die nicht alle TV-Zuschauer:innen sofort verstehen können, die aber sicherlich für helles aufhorchen in allen Landeshauptstädten gesorgt haben wird.

III. Was hat Merkel ihrer Partei gesagt?

Merkels Botschaft in der Sendung richtete sich massiv an ihre eigene Partei. Abgesehen von der Kritik an Müller (SPD) kritisierte die Kanzlerin ausschließlich Mitglieder ihrer eigenen Partei.
Sie sprach an, dass die Wirtschaftshilfen viel zu langsam ausgezahlt werden. Das fällt klar in die Verantwortung von CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier.
Sie sprach an, dass die mangelnde Beschaffung von Schnelltest gerade andere Strategien aufhält. Dafür ist CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn zuständig.
Die Politik des CDU-Vorsitzenden Laschet kommentierte sie mit den Worten "das stimmt mich nicht fröhlich".
Drei Ansagen, die typisch für Merkel weitgehend verklausuliert waren, aber die von den Betroffenen durchaus verstanden werden.

IV. Was war auffällig an Merkels Auftritt?

Sehr untypisch für Politiker:innen war, dass Merkel komplett darauf verzichtete Kritik an ihren Koalitionspartnern im Bund zu üben (SPD + CSU).
Sie kritisierte in keinster Weise die Arbeit oder die Forderungen der Opposition.

V. Wozu dient das alles?

Merkel hat gestern eine überparteiliche Machtdemonstration durchgeführt. Durch ihre Entschuldigung für den Oster-Lockdown hat sie sich Gehör in der Bevölkerung verschafft.
Durch die Angriffe auf die eigenen Parteileute, hat sie überparteiliche Autorität aufgebaut und diese dann genutzt, um alle Ministerpräsident:innen unter Druck zu setzen.
Der Fachbegriff in der Politikwissenschaft für diese Strategie nennt sich "Kanzlerdemokratie". Steuerung außerhalb der üblichen Verfahren schlicht durch öffentliche Autorität.
Das Gegenteil der "Kanzlerdemokratie" ist die "Koordinationsdemokratie", für die Merkel lange stand. Jetzt, da sie mit der Koordination aller Beteiligten nicht mehr weiterkommt, greift sie auf das Mittel der Kanzlerautorität zurück.
Dass sie das macht ist nicht neu. Kanzler haben schon immer, wenn sie intern Macht eingebüßt haben, dieses Mittel genutzt.
Am stärksten sicherlich Gerhard Schröder bei der Durchsetzung seiner Agenda 2010. Merkel musste diesen Weg 16 Jahre lang nicht beschreiten, aber jetzt ist es soweit:
Die Kanzlerin spricht vor dem Volk zu anderen politischen Akteuren.
Alles in allem: Höchst spannend!

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